Das Rätsel
geschenkt.
Ein Enkelkind, dachte sie, wäre die reine Wonne gewesen.
Doch sie verstand, dass ihr das nicht mehr vergönnt sein würde, und malte es sich stattdessen in ihrer Fantasie aus. Sie erfand Namen und stellte sich Gesichter vor und erdachte sich künftige Erinnerungen als Ersatz für die realen, die sie sich wünschte. Sie stellte sich Urlaubsreisen und Ferien, Heiligabendeund Schulaufführungen vor. Es war fast mit Händen zu greifen, wie sie ein Enkelkind in ihren Armen hielt und ihm nach einem kleinen Kratzer oder Schnitt die Tränen abtupfte oder wie sie seinem gleichmäßigen, betörenden Atem lauschte, während sie ihm ein Buch vorlas. Sie sah in diesen Tagträumereien eine Schwäche, aber eine harmlose.
Und das fiktionale Enkelkind half ihr dabei, ihre Sorgen über die Kinder zu vergessen, die sie hatte.
Für Diana war beider seltsame Entfremdung und selbstgewählte Einsamkeit oft so schmerzhaft wie ihre Krankheit. Aber welche Pille konnten sie nehmen, um die Distanz zu verringern, die zwischen sie getreten war?
Als sie an diesem Nachmittag – die Klänge von »Onward Christian Soldiers« noch im Ohr, dazu
Wem die Stunde schlägt
sowie
Große Erwartungen
unter dem Arm – die letzten Meter zu ihrer Einfahrt ging und sich mit Sorgen wegen ihrer Kinder plagte, sah sie, wie sich im Westen eine riesige Gewitterwolke bedrohlich zusammenbraute. Sie fragte sich, ob das Unwetter auf die Keys zusteuerte, wo es dann mit einem Feuerwerk an Blitzen und Platzregen niedergehen würde, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sah. Sie hoffte, dass ihre Tochter bis dahin wohlbehalten zu Hause war.
Susan Clayton verließ an diesem Abend ihr Büro in einer Phalanx von Redaktionskollegen, unter den wachsamen Augen und den Automatikwaffen des Gebäudesicherheitsdienstes. Sie wurde ohne besondere Vorkommnisse zu ihrem Wagen geleitet. Normalerweise brauchte sie für die Fahrt vom Zentrum Miamis zu den Upper Keys etwas mehr als eine Stunde, selbst wenn sie auf der Überholspur ohne Geschwindigkeitsbegrenzung fuhr. Das Problem war natürlich, dassfast jeder diese Spur bevorzugte, was bei einem Tempo von hundert Meilen und einem Abstand von einer Fahrzeuglänge eine gewisse Kaltblütigkeit verlangte. Die Stoßzeit, dachte sie, hat mehr Ähnlichkeit mit einem Stockcar-Rennen als mit harmlosem, abendlichem Pendlerverkehr; es fehlte nur die Tribüne voller kerniger Voyeure, die auf einen Unfall hofften. Auf den Schnellstraßen außerhalb der Innenstadt wären sie meistens auf ihre Kosten gekommen.
Sie genoss den Adrenalinstoß, den die Fahrt ihr bescherte, vor allem aber die reinigende Wirkung auf ihre Fantasie; die Konzentration auf die Straße, auf die Autos vor und hinter ihr, ließ keinen anderen Gedanken zu. Das machte den Kopf frei und vertrieb sämtliche Tagträumereien, Bürosorgen und Ängste um ihre kranke Mutter. Sie hatte sich dazu erzogen, von der Schnellspur in den weniger riskanten, langsameren Verkehr hinüber zu wechseln, falls sie nicht in der Lage war, sich ganz aufs Fahren zu konzentrieren.
Dies war ein solcher Tag, und das ärgerte sie.
Neidisch blickte sie auf die links vorüberbrausenden Fahrzeuge, die im Licht der Geschäftsviertel glitzerten. Doch fast im selben Moment, in dem sie den Neid auf das unbegrenzte Tempo der anderen spürte, wurde ihr bewusst, dass sie sich über die noch nicht gelösten Rätselworte des anonymen Briefschreibers den Kopf zerbrach:
Previous
Always
Coffee Emerald Thant – vorherig
immer
Kaffee Smaragd Thant
.
Sie vermutete, dass der Stil des Rätsels mehr oder weniger dem des ersten entsprach: ein einfaches Wortspiel, bei dem jedes Wort in einer logischen Verbindung zu einem anderen stand – die Antwort auf das Rätsel, die ihrerseits zur Antwort des Schreibers führen musste.
Es ging nun darum, beides auszutüfteln. Herauszufinden, ob sie voneinander unabhängig oder miteinander verbundenwaren – ob darin noch ein verstecktes Zitat oder ein anderer Dreh enthalten war, der die Botschaft des Mannes in einer weiteren Schicht verbarg.
Sie bezweifelte es. Er wollte, dass sie herausfand, was er ihr zu sagen hatte. Er wollte nur, dass es clever, einigermaßen schwierig und so kryptisch wirkte, dass sie ihrerseits wieder antworten würde.
Manipulativ
, dachte sie.
Ein Mann, der Kontrolle ausüben will.
Was noch? Ein Mann, der etwas Bestimmtes bezweckt?
Auf jeden Fall.
Aber was?
Sie war nicht sicher, aber es gab nur zwei Möglichkeiten: sexuell oder
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