Das Regenmaedchen
Ganz ruhig.
Sind Sie verletzt?« Die Frau schüttelte hastig den Kopf, aber es war
offensichtlich. Er hatte sie geschlagen.
»Ist noch jemand hier? Kinder?«
Sie schüttelte wieder den Kopf. »Nein. Sie sind im
Kindergarten. Er hat sie noch in den Kindergarten gebracht.«
»Sehr gut«, sagte Franza. »Das ist sehr gut. Sie müssen
keine Angst mehr haben, Frau Bohrmann. Wir beenden das hier.«
Sie drehte sich um, sah den Lauf der Waffe wieder auf sich
gerichtet. »Nicht wahr, Herr Bohrmann? Wir beenden das hier.«
Er lachte, und als sie seine Augen sah, war sie sich nicht
sicher, wie sie es beenden würden. Seine Welt hatte sich verkehrt, und der
Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er nicht mehr wusste, in was sie
sich verkehrt hatte und ob er rechtzeitig zurückfinden würde. »Setz dich«,
sagte er schroff.
Sie nahm sich einen Stuhl, rückte ihn neben den der Frau,
wollte sich setzen. »Weg von ihr«, sagte er. »Auf die Couch.«
»Herr Bohrmann«, sagte sie, während sie ihm gehorchte,
»Jens. Wollen Sie mir nicht erzählen, was passiert ist?«
»Die Waffe! Auf den Boden damit!«
Sie streckte ihre Arme von sich. »Ich habe keine Waffe bei
mir. Sehen Sie mich an.«
Langsam richtete er die Pistole auf seine Frau, nichts in
seinem Gesicht zuckte. »Die Waffe auf den Boden, oder ich erschieße sie.«
»Herr Bohrmann -«
»Ich erschieße sie.«
Er war so ruhig wie nie in seinem Leben, eine Kälte hatte
ihn erfasst, eine Gleichgültigkeit, die sein Herz lahmlegte und seinen Himmel
verdunkelte. Franza sah es und wusste, sie hatte die Gefahr falsch
eingeschätzt. »Gut«, sagte sie. »Gut, wir wollen nicht die Nerven verlieren,
Herr Bohrmann, nicht wahr?«
Langsam, vorsichtig, zog sie ihre Dienstwaffe heraus, die
verborgen unter der kugelsicheren Weste in ihrem Hosenbund gesteckt hatte. Er
ließ sie nicht aus den Augen.
»Auf den Boden damit«, sagte er. »Herüber zu mir.«
Sie gab der Waffe einen Stoß mit dem Fuß, sie rutschte
quer durch den Raum, er ging hin, hob sie hoch und schleuderte sie hinaus auf
den Flur. »Ich bin sehr müde«, sagte er. »Sehr, sehr müde. Spiel nicht die
Heldin. Das würdest du bereuen.«
Er lachte ein bisschen, Schweißtropfen standen auf seiner
Stirn, er zwinkerte, wischte mit dem Handrücken über seine Augen. Sie hörte und
sah die Verzweiflung.
»Wollen wir Ihre Frau nicht gehen lassen?«, fragte sie
vorsichtig. »Es ist doch schon
spät. Schon Mittag. Sollte sie nicht die Kinder aus dem Kindergarten holen?«
»Nein«, sagte er. »Nein. Wir lassen sie nicht gehen. Und
dich auch nicht. Dich lassen wir auch nicht gehen! Darum habe ich dich
hergeholt. Dass du nicht mehr gehst. Dass du bleibst. Weil du doch Schuld hast
an dieser ganzen Scheiße.«
»Was meinen Sie, Herr Bohrmann? Woran habe ich Schuld? Sie
müssen mir helfen. Lassen Sie uns darüber reden. Erzählen Sie. Wir werden eine
Lösung finden.«
Wieder lachte er. »Hältst du mich für blöd? Es gibt keine
Lösung. Willst du mich einlullen mit deinen Fragen, mit deinem Verständnis?
Aber dazu ist es zu spät. Verstehst du? Zu spät. Du wirst mit draufgehen, verstehst
du! Du! Und sie! Und ich!«
Er sackte ein wenig zusammen, seine Stimme kippte, aber
immer noch hielt er die Waffe hoch. »Nur die Kinder«, klagte er tonlos, »die
Kinder nicht.«
»Ja«, sagte Franza. »Die Kinder. Die brauchen Sie noch.
Wie viele Kinder haben Sie denn?«
Er wurde ruhiger, sie spürte es. »Zwei«, sagte er. »Lukas
und Anja. Sie sind im Kindergarten. Sie sind noch klein.«
Sie nickte. »Wie schön. Diese Zeit sollten Sie auskosten.
Wenn sie noch so klein sind. Das ist etwas ganz Besonderes. Setzen Sie sich
doch.« Sie beschloss, von Ben zu erzählen, Bohrmann würde zuhören, würde sich
entspannen, würde weich werden.
Da kam ein Auto angerast. Sie hörten es gleichzeitig,
Bohrmann und Franza, das Plärren des Folgetonhorns, das Quietschen der Reifen,
laute Stimmen. Wahrscheinlich der Staatsanwalt, der liebte große Auftritte.
Scheiße, dachte Franza, die Ruhe ist weg.
Und so war es, Bohrmann spannte seinen Körper an, würde
durchstarten wie eine Rakete, wenn sie es nicht schaffte, ihn zu stoppen. Wild
fuchtelte er mit seiner Waffe vor den beiden Frauen herum.
»Ihr glaubt wohl, ihr könnt mich austricksen! Aber das
wird nicht funktionieren!«
»Ganz ruhig!«, sagte Franza und hob besänftigend ihre
Hände. »Ganz ruhig. Nicht die Nerven verlieren. Ganz ruhig. Sie wollten mir
doch erzählen, was geschehen
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