Das Regenwaldkomplott
Bootes und streifte den Zettel ab. Bevor er die Zeilen las, blickte er sich noch einmal nach allen Seiten um. Der Regenwald war wie eine riesige grüne Mauer. Bis auf die verschiedenen Laute der Tiere rührte sich nichts in ihm. Kein Warngeschrei, kein Aufflattern der Vögel, kein helles Kreischen der aufgeschreckten Affen. Und doch stand irgendwo ein Mensch zwischen den Bäumen und Farnen und sah zu ihnen herüber. Ein Mensch, den die Tiere als ihresgleichen betrachteten.
»Was … steht auf dem Zettel?« Die Angst veränderte Luises Stimme.
Thomas atmete tief durch. Dann las er den Zettel laut vor. Die Sätze waren in einem einwandfreien Portugiesisch geschrieben, in Druckbuchstaben und mit einem Kugelschreiber:
»Willkommen Tomás Binder und Luisa Herrmann in unserem Land!
Sehen Sie mit wachen Augen, was hier mit uns geschieht, und schreien Sie es in die Welt hinaus. Jede Stimme ist wichtig für unser Überleben. Sie werden viel Grausamkeiten sehen. Gnadenlosigkeit und Tod. Man wird auch Sie wie ein Wild hetzen, wenn Sie die Wahrheit sagen über das Sterben des Regenwaldes und seiner Menschen. Behalten Sie Ihren Mut – das Schicksal Amazoniens wird mit Blut geschrieben werden, und Sie werden mitten in diesem Kampf stehen. Ich bin an Ihrer Seite, auch wenn Sie mich nicht sehen.«
Langsam ließ Thomas den Zettel sinken, reckte dann den Arm hoch in die Luft und winkte in den Urwald hinein. Wenn er mich sieht, dachte er, weiß er jetzt, daß wir ihn verstanden haben.
»Der Rote Pfeil«, sagte er zu Luise, die noch immer wie gelähmt auf dem Boden saß. Ihr nackter Körper glänzte in der Sonne. »Er will so etwas wie ein Schutzengel für uns sein.«
»Er hat uns die ganze Zeit beobachtet«, stammelte sie. »Er hat alles gesehen. Alles.«
»Er hat gesehen, daß wir uns liebten. Ist das eine Schande?« Thomas bückte sich, zog seine Hose an und steckte den Zettel in die Tasche. »Ich glaube, wir werden noch viel von dem Roten Pfeil hören.«
»Wir werden hineingezogen werden in Mord und Vernichtung.«
»Wir sind schon mittendrin, Chérie. Wir sind an der vordersten Front eines erbarmungslosen Krieges. Ich bin Arzt – das ist eine Art Schutzschild. Aber du wirst gewisse Kreise stören mit deinen Forschungen nach neuen Pflanzen. Kaum entdeckt, werden sie für immer vernichtet. Das ist genau das, worüber man schweigen will.«
»Ich werde ab heute nie mehr ohne Waffen gehen.« Sie suchte die im Boot verstreute Kleidung zusammen und zog sich an. »Ich habe vorhin gesagt: Ich habe Angst. Das hast nur du gehört. Ich werde den Mut haben, meine Aufgabe durchzuführen. Wenn dein Schutzschild der Arzt ist, dann ist mein Schutz, daß ich eine Frau bin.«
Sie brachen ihre Flußfahrt ab, verließen die kleine Bucht und kehrten zur Missionsstation zurück. Vincence und Ernesto trafen sie in dem weitläufigen Garten. Mit drei Yanomami hackten die beiden Unkraut aus den Beeten.
»Das war aber ein kurzer Ausflug«, rief Ernesto. »Bis zu den Dragas seid ihr nicht gekommen.«
»Nein. Wir hatten Besuch an Bord.«
Thomas hielt ihnen den langen, roten Pfeil hin. Die Yanomami warfen einen kurzen Blick auf den Pfeil und arbeiteten dann weiter. Pater Vincence griff nach ihm und blickte auf die federgeschmückte Spitze.
»Man hat Sie damit beschossen? Und Sie leben noch? Bisher hat der Schütze nie vorbeigeschossen.«
»Er hat mir eine Botschaft übermittelt.« Thomas holte den Zettel aus der Hosentasche und gab ihn Pater Ernesto.
»Und Sie haben nichts gesehen?«
»Nein, gar nichts. Plötzlich klatschte der Pfeil an die Bordwand. Wir beobachteten gerade einen Fischschwarm und hatten dem Wald unseren Rücken zugekehrt.« Pater, diese Lüge sei uns erlaubt, dachte Thomas. »Der Aufprall der Pfeilspitze machte uns erst aufmerksam.«
»Es ist kein Indio.« Pater Ernesto hielt Vincence den Zettel hin. »Sieh dir die Botschaft an. Die Schrift, das Portugiesisch, der Text – den hat kein Yanomami geschrieben! Unmöglich! Der Rote Pfeil ist ein Weißer. Er lebt unter uns, und keiner erkennt ihn. Er hört und sieht alles und spielt den Rächer in der Rolle eines Indios.«
Vincence las die Zeilen und gab den Zettel dann an Thomas zurück. »Das ist eine gute Botschaft. Sie stehen ab jetzt unter seinem Schutz. Das beweist aber gleichzeitig, daß er tatsächlich mitten unter uns lebt. Er beobachtet uns, er weiß über alles, was hier geschieht, Bescheid. Er hat sich den besten Platz ausgesucht. Hier auf der Mission trifft sich
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