Das Regenwaldkomplott
Luigi berichtete, daß in der Nacht der Medizinmann des Stammes, der sich am Fluß hinter der Missionsstation angesiedelt hatte, bei dem Verletzten erschienen war, den Verband abgenommen und die Wunde mit einem gelblichen Pflanzenbrei bedeckt und mit Palmblättern umwickelt hatte. Dann schien er dem Yanomami mit dem Bambusrohr das Rauschmittel Epená in die Nase geblasen zu haben, denn der Indio befand sich, als sich Luigi am frühen Morgen um ihn kümmerte, noch in einem Zustand der Halluzination. Er lag in seiner Hängematte und schlug sich pausenlos mit der flachen Hand klatschend gegen seine Brust. Jetzt war er ruhiger und starrte teilnahmslos Dr. Binder und Pater Ernesto an.
»Ich muß dringend mit dem Medizinmann sprechen«, sagte Thomas, als sie den Raum verlassen hatten und vor der Tür standen, hinter der das kleine Zimmer mit dem Bett und dem Indio mit dem Leistenbruch lag. »So geht es nicht weiter. War das immer so, Ernesto?«
»Fast immer, Thomas. Wenn wir Kranke stationär behandelten – viele Lungenkranke waren darunter in den letzten Jahren –, dann nahmen sie zwar unsere Medikamente ein, aber immer wieder erschien der Medizinmann und brachte in Nußschalen ein Gebräu mit, das er selbst hergestellt hatte. Bevor er es den Kranken gab, sang er leise vor sich hin, wiegte den Oberkörper hin und her, denn bei den Yanomami ist die Heilung einer Krankheit gleichbedeutend mit dem Austreiben der bösen Wald- und Wassergeister. Merkwürdigerweise haben die Kranken das Ritual überlebt, ob durch unsere Medikamente oder die Tränke des Medizinmannes, wer kann das beurteilen? Der Glaube der Yanomami an ihren shaboliwa – so nennen sie ihn – kann Wunder wirken. Ich habe es selbst erlebt.«
»Aber einen Leistenbruch heilt man nicht mit Pflanzensäften. Ernesto, wann kann ich mit dem Shabosoundso –«
»Shaboliwa.«
»– Shaboliwa sprechen?«
»Es ist schwierig. Man kann nicht einfach hingehen und sagen: Da bin ich. Nun unterhalten wir uns mal über einen Kranken. Das würde die persönlichen Geister des Medizinmannes, die hekula , beleidigen, und wenn er seine Hekula verliert, ist ein Shaboliwa ein lebender Toter. Er wird nach dem Glauben der Yanomami nie in den zentralen Himmel kommen, sondern in den östlichen Himmel, der eine große Strafe bedeutet.«
Pater Ernesto wischte sich über das Gesicht. Schon am Morgen war es drückend schwül, der Wald schien zu dampfen. Die Sonne sog alle Feuchtigkeit auf, bis der fast tägliche kurze warme Regen neues Wasser über den Regenwald schüttete und von ihm in den schalenförmigen Blüten riesiger Bromelien gespeichert wurde. Millionen solcher kleiner Seen hingen in den Zweigen der Mammutbäume, Heimat von Fröschen und Insekten und Kleingetier. »Ich werde zum Shabono unseres Stammes gehen und mit dem pata sprechen.«
»Was ist ein pata ?«
»Ein Pata ist so etwas wie ein Sprecher oder Führer der Yanomami. Es ist immer ein besonders kluger und fähiger Mann, und der beste von ihnen wird zum Häuptling ernannt. Die Patas bilden einen Rat, eine Art Stammesparlament, in dem alles besprochen wird, was das ganze Shabono angeht. Ein solches Palaver nennen sie patamou .« Pater Ernesto nickte mehrmals, als er Toms verblüfften Blick sah. »Alle denken, diese Indios leben so dahin wie halbwilde Tiere. Genau das Gegenteil ist der Fall. Sie haben seit Jahrhunderten eine feste soziale Ordnung. Das erzähle ich Ihnen später, oder Sie werden es sogar erleben. Ich werde also zum Shabono gehen und eine Entscheidung des Patamou besorgen. Erst dann können Sie mit dem Shaboliwa sprechen. Ich mache mich gleich auf den Weg.«
Pater Ernesto klopfte Thomas auf die Schulter und verließ das Hospital. Kurz darauf hörte Tom das Knattern eines uralten Motorrades. Der Priester war unterwegs zu den Yanomami.
Regungslos, als sei er eine Puppe, lag der Indio mit dem Leistenbruch in seinem Bett. Auch ihm schien der Medizinmann in der Nacht das Rauschgift Epená in die Nasenlöcher geblasen zu haben; der Blick des Kranken war starr, die Augen geweitet und von einem unnatürlichen Glanz.
Thomas verzichtete auf eine Untersuchung. Ein Bruch bleibt ein Bruch und ändert sich nicht von selbst. Luigi, der Krankenpfleger, räusperte sich. »Darf ich etwas fragen, Doktor?« sagte er.
»Immer, Luigi, das weißt du doch.«
»Darf ich Ihnen bei der Operation und auch später assistieren?«
»Kannst du das denn?«
»Ich habe ein halbes Jahr in Palermo auf Sizilien –«
»Ich kenne
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