Das Reich der Dunkelelfen - Weltennebel
Atorian hielt sich noch etwas länger auf den Beinen, aber auch ihn bewahrte nur das beherzte Eingreifen von Nordhalan davor, der Länge nach hinzuschlagen, als sie den Pass hinunterliefen. »Wir sind die ganze letzte Nacht durchgelaufen, um möglichst schnell herzukommen«, keuchte Atorian, und als Nordhalan ihn losließ, schwankte er verdächtig.
Als sie endlich in einer der Hütten angelangt waren, ließen sich Atorian und Edur sofort am Feuer nieder. Sie streiften ihre Kapuzen ab und wickelten sich mühsam mehrere Lagen Wolltücher vom Gesicht. Abgrundtiefe Erschöpfung zeichnete sich auf ihren Zügen ab, ihre struppigen Bärte waren mit Eiskristallen durchsetzt, dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und ihre Lippen waren blau und aufgesprungen. Edur schlief schon ein, bevor seine Hand auch nur den Löffel für die versprochene Suppe greifen konnte, auch Atorians Kinn sackte ständig auf die Brust.
Nordhalan fasste Atorian an der Schulter, und dieser zuckte kurz zusammen. »Haben deine Neuigkeiten bis morgen Zeit?«
»Nein … oder eigentlich schon«, antwortete Atorian undeutlich. »Es ist ohnehin zu spät. Die Hüter und die Drachen sind nicht mehr.« Er sackte gegen die Wand und seine Züge entspannten sich.
»Was hat er gesagt?«, krächzte der alte Markat ungläubig.
Nordhalans Miene drückte große Besorgnis und Unglauben aus. Dann schüttelte er jedoch den Kopf. »In dieser Nacht werden wir nichts mehr erfahren. Legt sie in die Betten, wir werden morgen reden.«
Nassàr machte sich daran, mit Fendors Hilfe, Atorians schlaffen Körper ins Bett am Feuer zu ziehen.
Die Sonne war bereits seit einiger Zeit aufgegangen, als Atorian aus seinem bleiernen Schlaf erwachte. Noch immer benebelt rieb er sich die Augen und streckte seine verkrampften Glieder, dann sah er sich um. Edur schnarchte noch tief und fest neben ihm auf seinem Strohlager. Irgendjemand musste während der Nacht neues Holz aufgelegt haben, denn es war angenehm warm in dem kleinen Raum, der nicht viel mehr als zwei Betten, eine Feuerstelle und einen Tisch beherbergte. Dort saß gerade ein einzelner Mann und schnitzte an einem Pfeil herum. Zu seiner großen Freude bemerkte Atorian, dass auch etwas zu essen auf dem Tisch stand, denn er konnte sich dunkel daran erinnern, gestern eingeschlafen zu sein, bevor er die ersehnte Suppe hatte zu sich nehmen können. Gähnend richtete sich Atorian auf, und der Mann sah mit einem beinahe schon schockierten Blick auf ihn herab. Nun betrachtete Atorian ihn eingehender. Der Fremde hatte vermutlich schon mehr als seinen fünfzigsten Sommer gesehen, seine Haare zeigten eine Vielzahl grauer Strähnen, und um die Augen herum hatten sich Falten tief in sein Gesicht eingegraben. Als er sich langsam erhob, wurde deutlich, dass er nicht sehr groß war, jedoch stämmig gebaut und muskulös.
»Atorian, ich kann es nicht fassen«, sagte der Mann mit heiserer Stimme.
Diese vertrauliche Ansprache verwunderte Atorian im ersten Augenblick, doch dann runzelte er die Stirn – im Grunde genommen war er ja kein König, aber zumindest Prinz Atorian wäre angemessen gewesen. Schließlich vergaß er die Förmlichkeiten, denn er war hungrig und setzte sich an den Tisch, um mit großem Appetit Brot, Schafskäse und geräucherte Würste hinunterzuschlingen.
Irgendwann bemerkte er, dass der Mann ihn noch immer ansah.
»Was starrt Ihr mich so an?«, fragte Atorian gereizt und ließ die angebissene Wurst sinken.
»Du erkennst mich nicht, kein Wunder.« Sichtlich betrübt fuhr sich der Mann durch die kurzen, borstigen Haare.
»Auch wenn mein Bruder König ist, fände ich es angemessen, wenn …«, begann Atorian verärgert, doch dann kniff er die Augen zusammen. Kurz zögerte er und keuchte dann: »Jeroman?«
Auf dem Gesicht seines Gegenübers breitete sich ein vorsichtiges Lächeln aus, dann nickte er. Atorian hingegen sprang von Freude und Überraschung übermannt auf. Jeroman war sein Freund gewesen, doch er hatte ihn noch immer als kaum dem Jungenalter entwachsenen Mann in Erinnerung, nicht als jemanden, der schon die Hälfte seines Lebens überschritten hatte. Natürlich wusste Atorian, dass er sich in den über zweihundert Sommern seines Lebens an so etwas gewöhnt haben sollte, aber normalerweise hatte er es miterlebt, wenn die Menschen um ihn herum älter wurden und starben. Doch die Zeit im Gefängnis von Rodgill hatte ihn von der Außenwelt abgeschnitten. Ganz bedächtig legte er seine Hand auf die des kleineren
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