Das Reich der Elben 01
wissen!«, sagte Keandir geradezu beschwörend – denn in diesem Moment sah er die Möglichkeit, all die schwere Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, zu mindern. Wie viel leichter fiel doch eine
Entscheidung, wenn man sich sicher sein konnte, dass man auf dem richtigen Weg war. Keandir wusste nicht mehr, wann die Elben diese Gewissheit verloren hatten. Es musste lange her sein. Er selbst war erst während der Reise geboren worden, und da war jene Epoche längst vorbei gewesen, in der die Elben genau gewusst hatten, wo ihr Ziel lag und was ihre Bestimmung war; und in seiner Kindheit war diese Gewissheit nur noch eine verblassende Erinnerung gewesen.
»Es steht Euch frei, Fragen zu stellen, Weggenosse eines flüchtigen Moments«, antwortete der Augenlose. In seinem Gesicht regte sich dabei nicht ein Muskel. Doch die Stirnpartie mit den fehlenden Augenhöhlen war dem König der Elben zugewandt, sodass Keandir trotz allem das Gefühl hatte, dass sein Gegenüber ihn ansah – wenn auch vielleicht eher auf geistiger Ebene, wozu das Vorhandensein von Augäpfeln nicht nötig war.
Keandir schauderte bei dem Gedanken, welch monströser, uralter und vielleicht auch bösartiger Geist hinter dieser gesichtslosen Stirn verborgen sein mochte. Ein Geist, der seit Äonen mit Spott und Zynismus die Welt beobachtete. Einsam und lebendig begraben in einer Höhle ohne Ausgang, die sich nur mit magischen Mitteln verlassen oder betreten ließ.
Die aufgesprungenen, schorfigen Lippen des zahnlosen Mundes pressten sich aufeinander und verzogen sich zu einem hämischen Lächeln. Blanke Überheblichkeit klang in seinen Worten, als der Seher fortfuhr: »Mir steht es allerdings frei, Euch zu antworten oder dies nicht zu tun – ganz wie es mir meine Verantwortung gegenüber dem Schicksal oder einfach nur meine Laune einflüstert.« Der Augenlose Seher näherte sich. Er hielt Keandir beide Stäbe entgegen – den dunklen mit dem bleichen Totenschädel an der Spitze und jenen, auf dem das goldene Abbild eines geflügelten Affen so lebensecht thronte, dass man glauben konnte, er würde jeden Moment aus
der Starre erwachen und sich mit seinen ausgebreiteten
Schwingen in die Lüfte erheben. »Nehmt sie!«
»Was?«
»Alle beide! Den Stab der Finsternis und den Stab des
Lichts.«
Der Seher hatte den Befehl mit einer solchen Eindringlichkeit vorgebracht, dass seine Worte in König Keandirs Kopf widerhallten und betäubend auf sein Inneres wirkten. Er war in den nächsten Augenblicken nicht mehr in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.
»Mein König!«
Keandir erreichte der Ruf wie aus weiter Ferne. Nur beiläufig bemerkte er, dass es der junge Branagorn war, der seinen Namen gerufen hatte.
Aber wie alles andere, was um ihn herum war, trat auch Branagorn auf seltsame Weise in den Hintergrund. Keandirs empfindliche Elbensinne schienen auf einmal von einer plötzlichen Taubheit befallen. Er hatte das Gefühl, dass ihn eine unsichtbare Barriere von allem, was ihn umgab, abschirmte. Von allem, außer den Einflüsterungen des Augenlosen Sehers.
Keandir hob die Hände und ergriff die beiden Stäbe des Sehers. In dem Moment, als sich seine Finger um das Holz der Stäbe schlossen, durchlief ihn ein beinahe schmerzhaftes Prickeln. Eine überwältigende Kraft durchfuhr seinen gesamten Körper, während der Augenlose eine seiner sechsfingerigen Hände auf Keandirs Kopf legte. Die andere Hand presste er gegen Keandirs Brust, direkt über dem Herzen. Der aasige, uralte Atem des Sehers umgab Keandir wie eine Aura, und ein Schwarm kleinster schwarzer Teilchen drang aus dem zahnlosen Mund. Sie glichen winzigen Insekten und schwirrten unruhig durcheinander. Dann bildeten sie einen
Strom, der direkt in die Nasenlöcher des Königs strebte.
»Was tut Ihr mit meinem König?«, rief Branagorn.
Der junge Elb wähnte seinen Herrn in Gefahr. Von Anfang an hatte er eine Aura des Bösen gespürt, und er fragte sich, weshalb er seinen hochsensiblen Elbensinnen nicht getraut und seinen König früher gewarnt hatte.
Branagorn griff zu dem Schwert an seiner Seite und riss die Klinge heraus. Was auch immer dieser Augenlose Seher für schwarzmagische Teufeleien an seinem König verüben wollte
– Branagorn würde dabei nicht tatenlos zusehen.
Er holte zu einem Schwertstreich aus, aber eine unsichtbare Kraft erfasste Branagorn, riss ihn zurück und schleuderte ihn gegen die Felswand. Er war unfähig sich zu bewegen, die Kraft hielt ihn wie in einem
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