Das Reich der Elben 01
groß und strahlend wie ein Sinnbild der Unendlichkeit. In diesem ersten Augenblick seiner Erinnerung
war ihm alles so leicht und klar erschienen. Es schien keine Grenzen zu geben und alles möglich zu sein. Er hörte die Stimmen der Erwachsenen, die von den Gestaden der Erfüllten Hoffnung sprachen, und von der langen Reise, die schon hinter ihnen lag. Doch all das, was sie sagten, war noch von verhaltenem Optimismus geprägt.
Was war in der Zwischenzeit mit seinem Volk geschehen? So viele ungezählte Jahre waren mit der Suche nach Bathranor, den Gestaden der Erfüllten Hoffnung, vergangen. Selbst für das Zeitempfinden eines Elben dauerte sie bereits länger, als es für manche erträglich war. In den alten Zeiten, so hatte man Keandir erzählt, war der Lebensüberdruss unter den Elben bei Weitem nicht so verbreitet gewesen wie in diesen Tagen.
»Ihr seid hier auf einer dem Festland vorgelagerten Insel«, erklärte der Seher, »aber hier werdet Ihr nicht bleiben können. Ein so feinfühliges Geschlecht wie das Eure würde sich gegen die morbide Macht der uralten Schatten, die diese Insel beherrschen, auf die Dauer nicht behaupten können. Glaubt es mir.«
Überraschung prägte Keandirs scharf geschnittenes Gesicht.
»Woher wisst Ihr…?«
»Eure Seele ist für mich ein offenes Buch, König Keandir. Gerade sah ich Dinge, die selbst Ihr nicht über Euch wissen wollt…« Ein erneutes Kichern drang aus der stinkenden Mundhöhle des Augenlosen. »Aber keine Sorge, ich werde Euch nicht gegen Euren Willen über die Finsternis aufklären, die Euer strahlender Elbenkörper verbirgt. Nur so viel lasst Euch gesagt sein: Wirklich gefährlich sind niemals die Schattenkreaturen der Äußeren Welt, sondern die Dunkelheit in Euch selbst, deren Existenz Euresgleichen so hartnäckig leugnet.«
»Man nennt uns Elben auch die Geschöpfe des Lichts«, antwortete Keandir.
»Licht, das Euch selbst blendet, sodass Ihr die Finsternis in Euch nicht seht«, erwiderte der Augenlose und hob seine beiden magischen Stäbe – den hellen und den dunklen. »Licht und Finsternis sind ohne einander nicht denkbar. Sie sind zwei Aspekte ein und desselben. Und je mehr Ihr die Finsternis zu verbannen versucht, desto hartnäckiger schleicht sie sich in Eure Seelen ein.«
Keandir schüttelte den Kopf. »Worauf soll diese Unterhaltung hinauslaufen? Auf einen philosophischen Disput? Während der langen Seereise, die mein Volk hinter sich hat, hatte ich viel Zeit, um über derartige Fragen nachzudenken, Augenloser. Im Moment bin ich jedoch an näherliegenden Dingen interessiert.«
»Ich weiß. Obwohl es mir durchaus nicht alltäglich scheint, dass ein Angehöriger Eures Geschlechts einen Sinn für das Praktische entwickelt.«
»Ihr habt gesagt, Ihr hättet meine Seele geprüft. Hat sie sich als würdig erwiesen, um Antworten zu erhalten?«
»Es geht nicht darum, ob sie würdig genug ist, König
Keandir.«
»Ach nein?«
»Die Frage ist, ob sie stark genug ist, die Antworten des
Orakels zu überstehen.«
»Von welchem Orakel sprecht Ihr?«
Wieder kicherte der Augenlose. »Eure Stimme vibriert, als ob Euch bereits bei dem Gedanken daran die Furcht in ihren Würgegriff nimmt. Dennoch wollt Ihr wissen, in welcher Weise das Geschick Eures Volks durch die Geburt der Zwillinge beeinflusst wird und ob die Mächte des Schicksals für oder gegen Euch sind, wenn Ihr auf dem nahen Festland siedelt. – Nun, so folgt mir zum Orakel.«
»Ich hatte gedacht, Ihr selbst hättet eine klare Kenntnis der
Zukunft.«
Wieder verzog der Augenlose spöttisch den Mund. »Ich würde es eine Ahnung der Möglichkeiten nennen.«
»Warum auf einmal so bescheiden?«
»Ihr müsst selbst wissen, ob Ihr den Weg zur Erkenntnis gehen wollt oder davor zurückschreckt!« Der Augenlose hob den dunklen Stab mit dem Totenschädel und richtete ihn auf eine Felswand. Dort, wo sich gerade noch massives Gestein befunden hatte, war auf einmal ein düsterer Gang. Ein schabender Laut drang daraus hervor – und das Plätschern von Wasser. »Habt Ihr Mut genug, Euch ans Ufer des Schicksalssees zu begeben?«, fragte der Augenlose.
»Lasst Euch nicht auf die magischen Kunststücke dieser Höhlenkreatur ein!«, beschwor Branagorn seinen König. »Ich fühle, dass es Euer Verderben sein wird.«
»Nie hat jemand ernsthaft meinen Mut angezweifelt«, entgegnete Keandir. »Davon abgesehen befinden wir beide uns bereits in der Hand dieses selbst ernannten Sehers, denn nur er hat die Macht, uns wieder aus diesem
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