Das Reich der Elben 01
Oberfläche bildeten Wellen konzentrische Kreise. »Wir sollten das alles nur nicht hier besprechen. Unsere Anwesenheit ist für den Furchtbringer eine Provokation und fördert nur seine Erholung, vielleicht sogar den Wechsel in eine Erscheinungsform, die noch unangenehmer ist, als es die letzte für Euch war, König Keandir.«
Keandir verengte die Augen. Die Erinnerungen an den Kampf drängten sich ihm erneut auf, mit einer Intensität, die ihn Augenblicke lang an nichts anderes denken ließ. Er fühlte noch einmal die namenlose Furcht, die er während des Kampfes empfunden hatte.
Keandir schloss für einen Moment die Augen und versuchte sich an die Visionen zu erinnern, die ihm das Orakel vor dem Kampf gesandt hatte, aber die Bilder verblassten bereits wie ein Traum. Was war mit der strahlenden Zukunft des Elbenvolks, die er gesehen hatte? War dies nur eine Illusion gewesen? War das alles hinfällig, wie der Augenlose gesagt hatte?
»Was ist mit Euch, mein König?«, fragte Branagorn besorgt.
»Es ist nichts«, murmelte Keandir.
Der Augenlose kreuzte die beiden Zauberstäbe und hielt sie in Richtung einer Felswand. Ein Gang eröffnete sich vor ihnen, und Dutzende von Fackeln entzündeten sich an den Wänden.
»Worauf wartet Ihr noch?«, fragte er.
Keandir blickte zurück zum dunklen Wasser, das immer mehr in Bewegung geriet. Dem besiegten Furchtbringer schien es nicht zu gefallen, wie sich die Situation entwickelte.
Friss deinen Zorn in dich hinein und erstick daran!, dachte Keandir. Er bückte sich, nahm das Schwert vom Boden auf und steckte es in die Scheide an seinem Gürtel, ehe er dem Augenlosen folgte. Branagorn schloss sich ihm an.
Der Gang erstreckte sich endlos lang vor ihnen. Hinter der Gruppe schloss er sich, als hätte er nie existiert, sodass es kein Zurück mehr gab.
»Ich hoffe, Ihr habt richtig für uns entschieden«, flüsterte
Branagorn seinem König zu.
»Wo führst du uns hin, Augenloser?«, fragte Keandir.
»Zunächst in meine Höhle. Dort muss ich ein paar Utensilien zusammensuchen, die wir dringend benötigen werden. Danach…« Er sprach nicht weiter.
Im nächsten Moment erreichten sie die Höhle. Der Gang schloss sich hinter ihnen; dort war nur noch eine Felswand.
Der Augenlose atmete tief durch und stieß dann ein schweres Seufzen aus. »Nach so langer Zeit endlich die Aussicht auf Freiheit zu haben – das kann ich noch immer kaum fassen…«, gestand er.
»Ich will zunächst Antworten auf meine Fragen!«, verlangte Keandir. »Wer seid Ihr, und weshalb wurdet Ihr so lange an diesem Ort des Schreckens gefangen gehalten?«
Der Augenlose lachte. »Dafür sorgte einst mein Bruder Xaror. Ihr wollt die Geschichte erfahren? Gut. Ich werde Euch von meinem Bruder und von mir erzählen, aber in der Zwischenzeit werde ich ein paar Vorbereitungen treffen.«
»Vorbereitungen?«, hakte Keandir nach.
»Sonst verpassen wir den Moment, in dem wir uns befreien können.« Der Augenlose machte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf und wandte Keandir das Gesicht zu, so als könnte er spüren, wo sich sein Gegenüber befand. Der Mund formte so etwas wie ein zufriedenes Lächeln. »Die Ouroungour hätten Euch auf dem Felsplateau beinahe getötet«, erklärte er. »Das sind die affenartigen Bestien, die Euch und Eure Begleiter bedrängten. Sie entstammen einer hochentwickelten Kultur; ihre Monumente zeugen bis heute davon. Aber das ist viele Zeitalter her. Ihr habt gesehen, was
aus ihnen wurde. Eurem Volk stiinde Ahnliches bevor, hielte es sich liinger auf der Insel auf.«
6
DIE GESCHICHTE DES AUGENLOSEN
»Was hat den Niedergang der Affenartigen bewirkt?«, fragte Keandir, während der Augenlose den hellen Zauberstab emporhob.
Der goldene Affe an der Spitze erwachte aus seiner Erstarrung. Ein Lichtball entstand in seiner rechten Hand. Er warf ihn zu Boden, und an der Stelle, wo er auftraf, züngelten grellweiße Flammen empor.
Danach stellte der Augenlose seine beiden Zauberstäbe gegen die Wand und holte aus dem Schatten einer finsteren Ecke einen Topf hervor, dessen Metall giftgrün angelaufen war. Der Topf war mit einem Deckel verschlossen. Als dieser nur ein Stück zur Seite rutschte, verbreitete sich in der Höhle ein schier unerträglicher Gestank, den der Augenlose allerdings genüsslich durch die Nase sog. Um seinen Mund lag ein Ausdruck gehässiger Freude.
»Diese Insel ist mit einem Fluch belegt, dessen einziges Ziel es war, mich zu binden«, erklärte er. Er schnippte mit den Fingern, und von der
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