Das Reich der Katzen (German Edition)
Oberfläche.
»Die Rattenarmee!«, entfuhr es Twinky ängstlich.
Onisha sah die aberhundert kleinen Körper wie eine formlose
brodelnde Masse auf sich und ihre Freunde zukommen. Fassungslos sah sie, wie
mühelos sich die Ratten über Wasser hielten. Mehr noch. Sie schwammen wie die
Weltmeister.
»Was wollen die Biester von uns?«, murmelte sie.
Ben gab einen angeekelten Laut von sich. »Ich schätze mal, sie
wollen uns! Jetzt fehlt nur noch der Koch, der den Gong schlägt und ausruft: Es
ist angerichtet!«
»Lass deine Scherze«, rief Rocky angstvoll. Er war erst vor
einigen Sekunden wieder zu sich gekommen.
Corey schmunzelte. »Ich fürchte, es sind keine Scherze. Ben hat
völlig Recht. Die Rattenarmee hat schon ganz andere Gegner niedergemacht.«
»Und sie sehen sehr hungrig aus«, scherzte Ben weiter. Er legte
im Anflug von Galgenhumor die Pfote ans Ohr. »Ich höre ihr Magenknurren bis
hierher.«
»Halt gefälligst dein Maul und verrat uns lieber, was wir jetzt
machen sollen!« Fleurs Stimme klang leicht hysterisch.
Das kannte Onisha von der Freundin nicht. Aber sie hatten sich
alle verändert, seit sie das Totenreich betreten hatten. Ihre negativen
Charakterzüge hatten sich verschärft. Rocky war noch feiger geworden, Twinky
einen Hauch zickiger, Onisha eine Spur phlegmatischer, Ben noch großkotziger
und Rouven hatte einen unübertrefflich pestilenzartigen Gestank am Leib. Nur
Corey war völlig der Alte geblieben. Ruhig, sachlich und sehr, sehr weise.
»Wir müssen hier verschwinden«, sagte er. »Vor allem vom Ufer
weg. Am besten, wir retten uns erst einmal in den Wald. Hier stehen wir ja wie
auf dem Präsentierteller.«
Das Blatt hatte sich gewendet. Corey war nun derjenige, der den
Ton angab, und Ben fügte sich widerspruchslos. Er wusste, dass der ältere Kater
ihm einiges an Erfahrung und Wissen voraushatte. Und jetzt ging es um das
nackte Überleben. Sie hatten keine Zeit für klein karierte Machtspielchen.
»Los, Leute, bewegt euch. Corey hat Recht«, rief Ben. Er machte
eine Drehung um 180 Grad und preschte los. Die anderen folgten dicht hinter
ihm. Rouven hatte sichtlich Mühe, ihm mit seiner Beinverletzung zu folgen. Ächzend
und stöhnend humpelte er hinter ihnen her, fiel bereits nach wenigen Metern
zurück und verlor den Anschluss.
»Wir müssen auf Rouven warten«, schrie Twinky. »Er kommt sonst
nicht mit.«
Fleur warf ihr einen erstaunten Blick zu. So viel Mitgefühl hätte
sie der Schildpattkatze nicht zugetraut. Rouven keuchte vor Anstrengung und
Schmerz. Sein Fell klebte ihm verschwitzt am Körper. »Ich schaffe es nicht«,
keuchte er. »Geht ohne mich weiter, dann seid ihr schneller. Ich behindere euch
nur. Macht euch keine Sorgen, ich komme schon irgendwie zurecht!«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage. Du bist wohl von allen guten
Geistern verlassen. Glaubst du allen Ernstes, wir lassen dich hier zurück?«,
fauchte ihn Ben erbost an. Er warf einen Blick zum Fluss zurück. Das lebendige
Floß aus Rattenleibern bewegte sich unaufhaltsam auf das Ufer zu. »Wir müssen
uns irgendwo verstecken« Ben schaute sich suchend um. »Fragt sich nur, wo?«
Sein Blick blieb an einem am Boden liegenden Baum mit einem riesigen Stamm
haften. »Los«, befahl er, »versteckt euch erst einmal dahinter.«
Der Stamm bot tatsächlich optimalen Blickschutz zum Ufer, ohne
sie selbst an der Sicht zu hindern. So hatten sie die Ratten im Auge und wurden
von den Nagern nicht gesehen. Onisha drängte sich eng an Fleur und Twinky. Der
Baum war ihr nicht geheuer. Er war weder gefällt worden noch hatte der Blitz in
ihn eingeschlagen. Onisha fragte sich, wodurch er seiner aufrechten Haltung
beraubt worden war. Das Wurzelwerk war noch mit dem Erdreich verbunden und
trotzdem hatte es an Bodenhaftung verloren.
Während Onisha die verschlungenen Wurzeln betrachtete, stieg
dazwischen Nebel auf. Er verdichtete sich und formte sich zu einem Gesicht.
Dem Gesicht eines Mannes!
Onisha schrie vor Überraschung leise auf. Twinky regte sich neben
ihr. »Das ist ein Schamanenbaum«, rief sie ehrfurchtsvoll.
Onisha spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete, der ihr
die Luft abzuschneiden drohte. Der Schamane sah nicht wie in den Geschichten ihrer
Mutter aus. Er war nicht uralt, hatte kein schlohweißes Haar und keinen langen
Bart. Nein, er hatte ein glattes, junges Gesicht mit stechenden Augen und einer
Adlernase. Die Kopfbedeckung, die er trug, erinnerte an einen Helm. Mit der
Ausnahme, dass dieser nicht
Weitere Kostenlose Bücher