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Das Reich der Schatten

Das Reich der Schatten

Titel: Das Reich der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aileen P. Roberts
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lag in der Nähe eines Nebentores ein kleines Haus. Das Schilfdach war mit Gras überwachsen, die Haustür stand offen. Derjenige jedoch, den Ragnar suchte, war in der Scheune nebenan beschäftigt, denn von daher hörte er gerade ein leises Räuspern. Ein Mann mit schütterem, graublondem Haar saß dort und knüpfte ein Netz. Eine Welle der Zuneigung überschwemmte Ragnar, spülte einen Teil des Zornes über Lenas Verschwinden weg.
    »Andri!«, rief er leise.
    Der Mann hob seinen Kopf, seine Stirn legte sich in Falten, dann sprang er auf. »Ragnar!«, rief er erfreut, sah sich jedoch erschrocken um. »Was tust du denn hier?« Eilig fasste er ihn am Arm und zog ihn mit sich ins Innere des niedrigen Hauses. Ragnar musste den Kopf einziehen, Andri dagegen konnte bequem durch die Eingangstür treten.
    »Setz dich, Junge.« Andri deutete auf einen einfachen Holzstuhl und begab sich zur Feuerstelle, wo noch ein schwaches Feuer glomm. Er legte Scheite auf und hängte einen Kessel über die zaghaft züngelnden Flammen.
    Ragnar beobachtete den Mann, den er unbeabsichtigt nach Elvancor gebracht hatte und wegen dessen Tod man ihn in Island des Mordes bezichtigt hatte. Heute sah Andri so aus, wie er ihn aus Island in Erinnerung behalten hatte. Ruhig, ausgeglichen, immer bei der Arbeit und mit diesem freundlichen, wenn auch heute besorgten Ausdruck in seinem wettergegerbten Gesicht.
    »Was führt dich zu mir?« Der ältere Mann hob seine Schultern. »Wie du weißt, konnte ich in Talad noch nicht viel ausrichten. Es braucht Zeit, die Menschen behutsam davon zu überzeugen, dass die Tuavinn ihnen nichts Böses wollen.«
    »Darum geht es auch nicht.« Ragnar nahm sich ein Stück Brot aus der Schüssel, die Andri auf den Tisch gestellt hatte, und begann gedankenverloren zu essen. »Es ist sehr nett von dir, dass du dich für uns einsetzt, aber ich glaube kaum, dass ein Einzelner etwas ausrichten kann.«
    Andris Hand legte sich auf Ragnars Unterarm. »Ein Einzelner nicht. Doch wenn mir auch nur einer zuhört und glaubt, wird er es einigen seiner Freunde weitergeben, und wenn davon auch nur ein Teil derselben Meinung ist, mag auf lange Sicht ein Wandel eintreten.«
    »Ja, kann schon sein.« Ragnar seufzte schwer.
    »Wie du weißt, dauerte es auch eine ganze Weile, bis man mich hier akzeptierte. Aber schließlich konnte ich die Menschen überzeugen.«
    »Zum Glück bist du damals beim Bergvolk gelandet, die sind deutlich toleranter«, murmelte Ragnar. Nachdem er selbst von Maredd nach Elvancor gebracht worden war, war Ragnar während seiner Ausbildung mit Maredd durch die Berge geritten und dort in einem Bergdorf auf Andri getroffen. Es war ein freudiges Wiedersehen gewesen und hatte auch Andri endlich verstehen lassen, was mit ihm geschehen war.
    »Misstrauisch waren sie zu Anfang, denn als ich ihnen erzählte, wo ich herkam, hielten sie mich für einen Verrückten, einen Lügner. Aber schließlich erinnerten sich einige der Bergleute an Geschichten ihrer Ahnen, den Kelten. Von dem Land jenseits der Berge von Avarinn. Doch in ihren Augen war ich ein Nordmann, ein Feind ihrer Vorfahren.«
    »Ich denke, auch in dir schlummert ein Teil des keltischen Blutes«, vermutete Ragnar.
    »Das mag sein, mein Junge«, bestätigte Andri, »die Völker vermischten sich mit den Jahrhunderten.« Ein Lächeln zauberte eine Vielzahl an Falten um seine Augen. »In jedem Fall bin ich dir sehr, sehr dankbar, dass du mich nach Elvancor gebracht hast, Ragnar.«
    »Damals wusste ich nicht, was ich tue.«
    »Trotzdem, du bist ein guter Junge.« Andri straffte die Schultern. »Ich werde versuchen, mich für die Tuavinn einzusetzen, bevor ich in die Ewigkeit gehe.«
    »Ich hoffe, damit lässt du dir noch Zeit!«, betonte Ragnar.
    Aber der alte Mann, der in Island wie ein Großvater für ihn gewesen war, wiegte bedächtig den Kopf. »Elvancor ist wundervoll, und ich bereue keinen Tag, den ich hier verbracht habe. Dennoch drängt es mich, die wiederzusehen, die ich in der alten Welt gekannt habe. Meine Frau, meine Eltern, ja selbst Dagur.«
    »Dagur.« Ragnars Augen verengten sich, als er sich an seinen verhassten Stiefvater erinnerte, doch Andri nickte ihm zu.
    »Vieles, was Dagur getan hat, war nicht richtig. Aber entweder ist ihm das in der Ewigkeit bewusst geworden, oder aber er wird es in seinem nächsten Leben lernen.«
    »Mag sein«, grummelte Ragnar.
    »So, aber nun sag, was führt dich zu mir, Ragnar?«
    »Lena, das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe

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