Das Reigate-Rätsel
daran tun. Wahrheit ist besser als endloser Zweifel. Aber dann wollen wir auch gleich gehen. Legal gesehen begeben wir uns natürlich in hoffnunglos schlechtes Licht. Aber ich denke, daß es das wert ist. «
Als wir von der Hauptstraße in den kleinen Seitenweg einbogen, war es Nacht geworden.
Nieselregen hatte eingesetzt. Der schmale Weg war schlammig, und die Hecken zu beiden Seiten des Weges boten keine Möglichkeit, den Schlammlöchern auszuweichen. Mr. Grant Munro lief jedoch ungeduldig voraus, und wir stolperten hinter ihm her, so gut es eben ging.
»Das dort drüben sind die Lichter von meinem Haus«, murmelte er und zeigte auf das Schimmern hinter den Bäumen. »Und hier ist die Kate, die ich jetzt betreten werde! «
Wir hatten inzwischen eine Wegbiegung erreicht und standen nun direkt vor dem Gebäude. Ein kleiner Streifen gelben Lichtes zeigte uns, daß die Haustür nicht ganz verschlossen war. Eines der Fenster im Obergeschoß war hell erleuchtet. Als wir genau hinschauten, bemerkten wir den Schatten, der sich hinter dem Vorhang bewegte.
»Das ist die Kreatur!« schrie Grant Munro. »Sie können nun selber sehen, daß jemand im Haus wohnt. Folgen Sie mir nun, wir werden bald mehr wissen.«
Damit gingen wir auf die Tür zu. Aber plötzlich war eine Frau aus dem Schatten hervorgetreten und stand nun im Schein des goldenen Lampenlichts. Ihr Gesicht lag im Schatten, so daß ich es nicht erkennen konnte. Sie breitete die Arme aus, so als wollte sie uns am Eintreten hindern.
»Um Gottes willen, Jack«, rief sie. »Ich wußte, daß du heute abend kommen würdest. Überleg es dir noch einmal, mein Lieber. Vertrau mir, doch noch einmal. Du wirst es nicht bereuen müssen.«
»Ich habe dir zu lange vertraut, Effie«, sagte er hart. »Laß mich los und laß mich vorbei. Mein Freund und ich wollen ein für allemal wissen, was hier los ist! « Damit schob er sie zur Seite, und wir folgten ihm auf den Fersen. Er lief die Treppe hinauf und wollte eine der Türen im oberen Stockwerk öffnen, als sie von innen geöffnet wurde. Eine ältere Frau kam heraus und stellte sich ihm in den Weg. Aber er stieß auch sie zur Seite. Wir alle liefen hinter ihm her die Treppe hinauf.
Munro stürzte in den hellerleuchteten Raum, und wir folgten ihm auf dem Fuß.
Das Zimmer war gut und gemütlich eingerichtet. Zwei Kerzen brannten auf dem Kamin und zwei auf dem Tisch. In der Ecke befand sich ein Schreibtisch, an dem ein kleines Mädchen über eine Arbeit gebeugt war. Ihr Gesicht war von uns abgewandt, aber wir sahen ihr rotes Kleidchen und die weißen Handschuhe, die sie trug. Ich stieß einen Schrei der Überraschung und des Schreckens aus, denn das Gesicht wandte sich plötzlich zu uns. Es hatte eine seltsam starre, kalkweiße Farbe, und die Züge waren absolut ausdruckslos. Doch einen Augenblick später war dieses Rätsel gelöst. Lachend griff Holmes hinter die Ohren des Kindes, und von dem Gesicht rollte eine Maske herab. Zum Vorschein kam ein kohlrabenschwarzes Negergesicht, dessen blitzweiße Zähne uns amüsiert entgegenlachten. Auch ich fiel in ihr vergnügtes Gelächter ein. Grant Munro jedoch stand wie angewurzelt und starrte auf die Szene, seine Finger hatten sich in seinem Hals verkrallt.
»Mein Gott«, rief er, »was hat denn das zu bedeuten?«
»Ich will dir jetzt erzählen, was das zu bedeuten hat«, sagte die Dame, die jetzt ebenfalls ins Zimmer getreten war, mit festem, stolzem Blick. »Aber vergiß nicht, daß du mich gegen meine Entscheidung gezwungen hast, es dir preiszugeben. Nun müssen wir beide sehen, daß wir das Beste daraus machen. Mein Mann ist in Atlanta gestorben. Aber mein Kind hat überlebt. «
»Dein Kind!«
Sie zog ein großes, silbernes Medaillon aus dem Ausschnitt. »Du hast es nie offen gesehen.«
»Ich dachte, es ließe sich nicht öffnen.«
Sie drückte eine Feder, und der Deckel sprang auf. Wir sahen das Porträt eines schönen Mannes mit einem guten, intelligenten Gesicht, der jedoch die unverwechselbaren Züge seiner afrikanischen Abstammung trug.
»Das ist John Hebron aus Atlanta«, sagte die Frau, »einen edleren Menschen hat es auf dieser Erde nie gegeben. Ich habe mich von meiner eigenen Rasse losgesagt, um ihn zu heiraten. Aber ich habe nicht einen Tag Grund gehabt, das zu bereuen. Leider war es unser Pech, daß unser Kind seinen Leuten nachschlug und nicht meinen. Lucie ist viel schwärzer geraten, als selbst ihr Vater war. Aber dunkel oder hell, sie ist mein Kind, mein
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