Das Reigate-Rätsel
Liebling und der größte Schatz ihrer Mutter.«
Das kleine Mädchen war durch das Zimmer gelaufen und hatte sich an den Schoß ihrer Mutter geschmiegt. »Ich habe sie in Amerika gelassen, aber das geschah nur, weil ihre Gesundheit noch geschwächt war. Der Ortswechsel wäre nicht gut für sie gewesen. So wurde sie in die Obhut einer treuen schottischen Frau gegeben, die zu unserer Dienerschaft gehörte. Niemals habe ich daran gedacht, mein Kind aufzugeben. Aber dann lernte ich dich kennen, Jack, und verliebte mich in dich. Nun hatte ich Angst, dir von meinem Kind zu erzählen. Gott möge mir vergeben, aber ich hatte eine solche Angst, dich zu verlieren, daß ich nie den Mut fand, es dir zu sagen. So habe ich mich von meinem kleinen Mädchen abgewandt. Drei Jahre lang habe ich ihre Existenz geheimgehalten. Aber ich hielt die Verbindung mit ihrer Betreuerin aufrecht, und alles war gut.
Schließlich wuchs in mir das unüberwindliche Verlangen, mein Kind wiederzusehen. Ich habe sehr dagegen angekämpft, aber es nützte nichts. Obgleich ich die Gefahr kannte, entschloß ich mich, mein Kind hierher kommen zu lassen, und sei es auch nur für ein paar Wochen. Ich habe der Betreuerin die hundert Pfund geschickt und ihr Anweisungen wegen dieser Kate gegeben. Es sollte so aussehen, als kämen sie als Nachbarn. Niemand sollte erfahren, daß wir miteinander verbunden sind. Ich habe meine Vorsichtsmaßregeln soweit getrieben, daß ich das arme kleine Ding zwang, Gesicht und Hände zu verdecken. Niemand, der zufällig an der Kate vorbeikam, sollte Grund zu dem Gerede haben, daß ein schwarzes Kind in der Nachbarschaft sei. Weniger vorsichtig zu sein, wäre wohl weiser gewesen. Aber ich war verrückt vor Angst, daß du die Wahrheit erfahren könntest.
Du warst dann der erste, der mir erzählte, daß die Kate wieder bewohnt sei. Ich hätte bis zum Morgen warten sollen, aber ich konnte vor Aufregung nicht schlafen. So schlich ich hinaus und rechnete damit, daß du wie üblich so fest schläfst. Trotzdem hast du mich ge hen sehen. Damit fingen meine Sorgen erst richtig an.
Am nächsten Tag hättest du gewaltsam in mein Geheimnis dringen können, aber du warst nobel und versprachst mir, diesen Vorteil nicht auszunutzen. Drei Tage später flohen die Betreuerin und das Kind jedoch nur mit knapper Mühe zur Hintertür hinaus, während du zur Vordertür hineingestürmt kamst. Und heute Abend hast du nun schließlich alles erfahren. Und nun frage ich dich, was aus mir und meinem Kind werden soll.« Sie faltete die Hände und wartete auf eine Antwort.
Es dauerte lange zehn Minuten, bevor Grant Munro das Schweigen brach. Aber als seine Antwort kam, war es eine, an die ich gerne zurückdenke. Er hob das kleine Mädchen auf und gab ihm einen Kuß, dann, mit dem Kind auf dem Arm, hielt er seiner Frau die Hand hin. Dann wandte er sich der Tür zu.
»Zu Hause können wir die Dinge viel besser besprechen«, sagte er. »Ich bin kein sehr guter Ehemann, Effie, aber vielleicht doch ein wenig besser, als du angenommen hast.«
Holmes und ich folgten ihnen aus dem Haus hinaus und ein Stück weit den Weg hinunter. Dann zupfte mich mein Freund am Ärmel.
»Ich glaube, in London können wir uns jetzt viel nützlicher machen als hier in Norbury.«
Nicht ein weiteres Wort verlor er über diesen Fall, bis zum späten Abend, als er, mit der Kerze in der Hand, im Begriff war, sich in sein Schlafzimmer zurückzuziehen.
»Watson«, sagte er, »wenn Ihnen auffallen sollte, daß ich ein bißchen zu selbstsicher werde oder wenn ich mich weniger um einen Fall kümmere, als er es verdient, dann flüstern Sie bitte
>Norbury< in mein Ohr, und ich werde Ihnen ewig dankbar dafür sein.«
Der junge Boersenmakler
Kurz nach meiner Hochzeit kaufte ich mir eine Arztpraxis in der Gegend von Paddington. Der alte Mr. Farquhar, dem ich sie abkaufte, hatte zu seiner Zeit eine gutgehende Allgemeinpraxis.
Aber er war alt geworden und hatte dazu ein Nervenleiden bekommen. Das hatte natürlich seine Auswirkungen. Nach und nach waren alle Patienten fortgeblieben. Die Leute gehen davon aus -
und der Gedanke ist gar nicht so unnatürlich -, daß der, der heilt, selber heil sein muß. Ein Mann, der heilen will und für dessen eigenen Gesundheitszustand jede medizinische Hilfe zu spät kommt, wirkt unglaubwürdig. So war es mit der Praxis meines Vorgängers immer weiter zurückgegangen. Das Einkommen, das sie einbrachte, war von zwölfhundert Pfund auf ganze dreihundert
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