Das Reliquiar
dient vor allem dem Allgemeinwohl, und dafür sollten wir dankbar sein. Stattdessen begegnet man den von Odelbergs immer wieder mit Misstrauen. Ihre angeblichen ›Beweise‹ stammen vermutlich von einem Mythomanen.«
»Ich versichere Ihnen, dass die Quelle der Informationen sehr zuverlässig war und die von Odelbergs alles andere als Wohltäter sind.«
» War ?«, wiederholte Baumann.
»Die betreffende Person ist ermordet worden, vermutlich weil sie zu viel wusste. Zum Glück bekam der Mörder
keine Gelegenheit, die im Computer des Opfers gespeicherten Daten zu löschen.«
»Sprechen wir von einem Geheimdienstagenten?«
»Von einem Angehörigen des vatikanischen Geheimdienstes. Niemand wusste davon.«
»Der Vatikan ist in diese Sache verwickelt?«, fragte Baumann verblüfft.
Valente lächelte. »Sie ahnen nicht, wie viele Leute darin verwickelt sind, Inspektor Baumann. Als ich mit den Ermittlungen in diesem Mordfall begann, hätte ich nicht gedacht, dass ich es mit internationalen Machenschaften, einer jahrhundertealten Geschichte und der Suche nach einem byzantinischen Kreuz zu tun bekommen würde. Von der Reliquie in dem Kreuz ganz zu schweigen.«
Baumann sah ihn aus großen Augen an. »Entschuldigen Sie, aber ich verstehe nicht, welche Verbindung zwischen den von Odelbergs und der Suche nach einer Reliquie bestehen sollte.«
»Wenn wir bei IhremVorgesetzten sind, sage ich Ihnen, was ich weiß. Was allerdings nicht bedeutet, dass ich alles verstehe.«
Rom, 10. April 1477
Das Leben war Oliviero Brandanti nicht gnädig gewesen. Nach der langen Gefangenschaft in Konstantinopel, dem Kampf gegen seinen Cousin Enrico Brandanti Malaterra und den zwei Jahren der vergeblichen Suche nach dem Kreuz hatte Oliviero geglaubt, endlich ein wenig Frieden gefunden zu haben, und zwar in den Armen von
Violante Del Rovo, einer faszinierenden und feinfühligen römischen Adligen. Sofort nach der Heirat waren sie nach Sandriano umgezogen und verbrachten dort einige Jahre in perfekter Harmonie. Doch dann starb die zarte, empfindliche Violante bei der Geburt ihres ersten Kindes, und einige Tage später war auch der Säugling tot. Oliviero versank im schwarzen Nichts tiefer Depressionen.
Ohne Violante wurde Sandriano für ihn ein unerträglicher Ort voll mit zahlreichen schmerzlichen Erinnerungen. Er kehrte in seinen römischen Palazzo zurück, in der Hoffnung, sein Leid mithilfe seiner Freunde überwinden zu können. Nach einiger Zeit fand eine andere Frau einen Weg in sein Herz: Laura Dorigo, ebenso schön wie gebildet.
Ein Jahr nach der Hochzeit kam das erste Kind zur Welt, ein Junge, und ihm folgten zwei weitere. Oliviero war glücklich, doch als Laura ihm mitteilte, erneut schwanger zu sein, hoffte er auf eine Tochter, auch deshalb, weil er wusste, dass dies dem Wunsch seiner Frau entsprach. Sie hatte bereits einen Namen ausgewählt: Beatrice.
Gelegentlich las Oliviero noch einmal den langen Brief seines Vaters über das Kreuz von Byzanz und bereute es, die Mission nicht zu Ende gebracht zu haben. Doch im Lauf der Zeit ließ die Reue nach und wurde immer schwächer. Schließlich verloren sich die Worte seines Vaters im Reich der Legende, zwischen Realität und Vision. Sie waren wie ein beschlagener Spiegel, in dem man undeutlich eine ferne Zeit sah. Ihre Bedeutung reduzierte sich auf eine Geschichte, die man
seinen Kindern erzählen konnte, damit sie voller Stolz auf die heldenhaften Taten ihrer Vorfahren aufwuchsen.
Zwischen Paderborn und Kassel, 14. November 2006
Sie hatten ein Abteil nur für sich gefunden, und im matten Lampenlicht öffnete Elena das Päckchen, das sie von Sabine erhalten hatte und das einige vergilbte Blätter enthielt. Elena nahm dasjenige, das die anderen umgab, und begann zu lesen.
Liebe Elena,
dich kennenzulernen war vermutlich die letzte schöne Sache, die mir das Leben beschert hat. Deshalb halte ich es für richtig, dass du von mir zurückerhältst, was ich vor vielen Jahren Lodovico genommen habe.Weißt du, für einige Momente war unsere Ehe perfekt. Doch schon bald wurde mir klar, dass für ihn nur das Kreuz von Byzanz zählte. Er dachte an nichts anderes. Er war so besessen davon, es zu finden, dass er abweisend und sogar boshaft wurde. Meine Verzweiflung wuchs, und eines Tages gelang es mir, sein geheimes Archiv zu betreten. Dort riss ich die letzten Seiten aus seinem Tagebuch und nahm alle Dokumente an mich, die eine Vorfahrin von ihm betrafen, eine gewisse Beatrice Brandanti. Er war
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