Das Reliquiar
Richtung Norden.
Arrigo schwieg und hing seinen Gedanken nach, die sich wie Sandwirbel in ihm drehten. Das eigene Versagen lastete schwer auf ihm. Hinzu kam die schmerzliche Erkenntnis, keine Zeit mehr zu haben. Die Krankheit würde ihn bald völlig entkräften, ihn innerlich und äußerlich zerfressen. In den vergangenen Jahren hatte er sich an der Hoffnung festgeklammert, seine Mission irgendwann erfolgreich abschließen zu können, aber inzwischen sah er keine Möglichkeit mehr, den Auftrag zu erfüllen. Arrigo hatte Männer, die ihren Pflichten nicht nachkamen, immer für ehrlos gehalten, und jetzt sah er sich selbst in diese Rolle gedrängt. Gab es jemanden, dem er die Aufgabe übertragen konnte und der seinerseits bereit war, den Schwur zu leisten?
Ja, es gibt jemanden, dachte er. Es gibt eine Person, die würdig ist, meine heilige Mission fortzusetzen. Und diese Person heißt Manfredi.
12
Schloss Sandriano, 4. November 2006
»Das ist alles?«, fragte Leone und drehte sich im Kreis.
Elena sah sich um, und für einen Moment schien sie sich in das kleine Mädchen zurückzuverwandeln, das damals diesen Raum betreten hatte. Sie bemerkte nur einen Unterschied: Der Putz an der Wand neben dem Kamin hatte sich inzwischen ganz gelöst; deutlich waren die Ziegelsteine zu erkennen, hinter denen Porzia damals eingemauert worden war.
»Wo befindet sich das Grab dieser Porzia?«, fragte Leone.
»Dort, hinter den Ziegeln.«
Leone klopfte an die Wand. »Klingt hohl, als wäre dort immer noch ein Zwischenraum. Hast du nie mit dem Gedanken gespielt, ein Loch in die Mauer zu schlagen und zu sehen, was sich dahinter befindet?«
»Nein, damals war ich zu klein...« Elena unterbrach sich, von plötzlichem Schwindel erfasst. Nein, unmöglich. Es konnte nicht jetzt geschehen, hier vor Leone. Die Zeit schien sich plötzlich zu dehnen, und für einen endlosen Moment hörte sie nicht nur verzweifelte Schreie, sondern auch leidenschaftliches Liebesgeflüster. Die Geräusche erschienen Elena wie der Herzschlag des Zimmers …
»Was ist los?« Leones Stimme brachte sie in die Gegenwart zurück.
»Oh, nichts«, brachte Elena hervor und fasste sich mit der Hand an die Stirn. »Zu viel Aufregung. Lass uns gehen. Wir haben hier genug gesehen.« Sie drehte sich um und ging, noch immer etwas wacklig auf den Beinen, zur Treppe.
Leone folgte ihr. »Wir haben jetzt den Beweis dafür, dass jemand im Turm gewesen ist.Vielleicht sollten wir Anzeige erstatten.«
»Nein, nicht nötig«, erwiderte Elena. »Das bringt nur Scherereien.«
Leone nickte. »Ja. Wahrscheinlich kommt der Einbrecher ohnehin nicht zurück. Inzwischen dürfte ihm klar sein, dass es hier nichts Wertvolles zu holen gibt.«
Nach dem Mittagessen brach Leone zu einem Spaziergang auf. Elena lehnte die Einladung ab, ihn zu begleiten, und als er gegangen war, fragte sie Marta: »Wo ist Saverio? Seit gestern habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Er ist heute früh los, um irgendetwas in der Stadt zu erledigen. Bis zur Testamentseröffnung um drei will er aber zurück sein.«
»Schade. Ich wollte ihn etwas fragen.«
»Kann ich dir vielleicht helfen?«
Elena griff in die Tasche und holte einen Schlüssel hervor. »Kurz vor seinem Tod hat mein Großvater mir den hier gegeben«, log sie. »Weißt du, zu welcher Tür er gehört?«
Marta betrachtete den Schlüssel verwundert. »Ich habe ihn noch nie gesehen. Er könnte zum Archiv gehören. Nicht zum großen im anderen Flügel, sondern zu dem kleineren, das vertrauliche Dokumente enthält. Der Zugang
befindet sich irgendwo im Arbeitszimmer, aber ich weiß nicht, wo genau. Ich schätze, das weiß nicht einmal Saverio.«
»Verstehe«, sagte Elena. »Nun, dann finde ich es eben allein heraus.«
Marta nickte und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und drehte sich um. »Entschuldige, wenn ich noch einmal darauf zu sprechen komme... Was will der Enkel der Deutschen bei uns? Wenn er hofft, etwas vom Erbe abzukriegen, dann täuscht er sich. Dein Großvater hat ihm nichts hinterlassen!«
Elena wollte die Gelegenheit nutzen, mehr zu erfahren. »Könntest du mir den Grund für diese Feindseligkeit meines Großvaters gegenüber seiner ersten Frau und Leone erklären?«
Marta begriff, dass sie ein wenig zu harsch gewesen war, und sie senkte die Stimme. »Ich weiß nicht. Als ich in die Dienste des Grafen getreten bin, war die deutsche Baronin schon seit einer ganzen Weile tot, und er hatte deine Großmutter geheiratet. Aber er
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