Das Reliquiar
er ihr gefehlt und wie sehr sie sich auf seine Rückkehr gefreut hatte. Stattdessen saß sie reglos da und wagte kaum zu atmen.
Arrigo ließ sich Zeit, ohne zu ahnen, welche Qualen seine Frau durchlebte. Er hatte sich Worte zurechtgelegt, um ihr seine Situation zu erklären, aber sie blieben ihm im Hals stecken. Schließlich wandte er den Blick vom Feuer ab, nahm seinen ganzen Mut zusammen und sah Iolanda an. Dann sagte er schlicht: »Ich habe Lepra.«
Dieses Geständnis ließ die Starre in Iolandas Gesicht wie Glas zerbrechen. Sie hob eine Hand an ihre Brust,
als wollte sie auf diese Weise die Flut der Emotionen eindämmen, die sie zu überschwemmen drohte. »Seid Ihr sicher?«, presste sie mühsam hervor.
»Jenseits des Meeres kennt man sich mit dieser Krankheit gut aus. Bisher habe ich sie vor allen verborgen, auch vor der Eskorte, die mich hierhergebracht hat. Deshalb habe ich sie sofort weggeschickt, ohne sie ins Schloss zu bitten.« Arrigo hielt im Gesicht seiner Frau nach Anzeichen von Entsetzen und Abscheu Ausschau, wie man sie nach einer solchen Enthüllung erwarten durfte, aber er sah nur Verständnis, Liebe und unendlichen Schmerz.
»Wir gehen es gemeinsam an, Arrigo«, sagte Iolanda. Sie stand auf und kniete vor ihm nieder, und ihre Finger berührten fast seine von Handschuhen umhüllten Hände. »Bei diesem Kampf lasse ich Euch nicht allein.«
»Der Ausgang dieses Kampfes steht bereits fest, und Ihr könnt nichts daran ändern«, erwiderte Arrigo. »Ich bleibe eine Weile hier, um meine Angelegenheiten zu regeln. Anschließend ziehe ich mich so weit wie möglich zurück.«
»Ich lasse Euch nicht gehen. Nein, mein Gemahl, so einfach werdet Ihr mich nicht los.«
Arrigo lächelte bitter. »Ihr versteht nicht, Iolanda. Ihr habt keine Vorstellung, zu was mich die Krankheit machen wird. Und Euer Mitleid will ich nicht!«
»Ihr seid es, der nicht versteht, mein Gemahl. Es ist nicht Mitleid, das ich Euch anbiete, sondern Liebe. All die Liebe, die Ihr braucht. Dafür bitte ich Euch nur, bei mir und Euren Kindern zu bleiben. Wir sind lange genug voneinander getrennt gewesen, und einen neuerlichen Abschied könnten wir nicht ertragen.«
»Meine Kinder...«, murmelte Arrigo. »Gerade um ihretwillen muss ich fort.«
»Habt keine Angst. Wir lieben Euch und kommen auch mit Eurer Krankheit zurecht.Vertraut mir. Ihr seid jetzt müde und braucht Ruhe. Ihr müsst Euch nicht sofort entscheiden.«
Arrigo schloss die Augen und lehnte sich zurück. »Ja, ich bin sehr müde«, erwiderte er. »Und ich denke, die Entscheidung kann noch einige Tage warten.«
Schloss Sandriano, 4. November 2006
»Ja, das ist meine Oma Elfriede. Das Foto stammt vom Tag der Hochzeit mit unserem Großvater.«
»Sie war sehr schön.«
»Das war sie, ja«, sagte Leone. »Sehr schön und sehr unglücklich.« Er wollte das Bild zurückgeben, aber Elena schüttelte den Kopf.
»Behalt es. Als Andenken.«
»Danke. Meine Mutter wird sich darüber freuen.«
Eine Zeit lang schwiegen sie und hörten das Knistern des Feuers im Kamin.
»Hast du vor, Anspruch auf das Erbe zu erheben?«, fragte Elena plötzlich.
»Wie bitte?«
»Du tauchst hier plötzlich auf, ohne eingeladen zu sein, nimmst an der Beerdigung eines Mannes teil, den du nie kennengelernt hast und der deiner Familie nur Unglück gebracht hat.Außerdem spielst du den liebevollen Verwandten...« Elena hatte nicht so direkt und unverblümt sein wollen, aber der nagende Zweifel war von
Marta auf sie übergesprungen, und sie hielt es für besser, vor der Testamentseröffnung Klarheit zu schaffen. Sie rechnete damit, dass ihr Cousin Empörung zeigen, seine Unschuld beteuern und ihr versichern würde, nur gekommen zu sein, um …
»Du hast Recht«, sagte er stattdessen und senkte den Blick. »Ich bin gekommen, um dir das Erbe streitig zu machen und das Testament anzufechten. Aber jetzt will ich das nicht mehr. Es war nicht meine Idee, sondern die meiner Mutter. All die Jahre hat sie von dem Tag geträumt, an dem sie sich würde rächen können. Zu Anfang war ich einer Meinung mit ihr, aber jetzt kenne ich dich und weiß, dass es nicht richtig wäre. Wenn unser Großvater dich zu seiner Erbin gemacht hat, so habe ich nichts dagegen. Ich akzeptiere seine Entscheidung. Von mir hast du nichts zu befürchten, das garantiere ich dir. Bist du bereit, mir zu verzeihen?«
»Was hast du sonst noch vor mir verborgen?«
»Nichts, ich schwöre es. Meine Mutter wird an die Decke gehen, weil ich all
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