Das Reliquiar
stammte, sondern von dir... Um etwas aus ihr herauszuholen, hätte ich sie foltern müssen.«
»Du hättest die Gunst des Augenblicks besser nutzen sollen«, sagte der Baron. »Ohne das Kreuz sind die Anstrengungen und Opfer all der Jahre nutzlos gewesen.«
»Gib mir eine zweite Chance, und ich zeige dir, wozu ich fähig bin.«
Otto von Odelberg musterte seinen Sohn einige Sekunden lang und seufzte dann. »Ich muss überlegen.
Nach diesem Misserfolg weiß ich nicht, ob ich dir noch einmal vertrauen soll.«
»Na schön, denk nach.« Bruno nahm seinen Mantel vom Stuhl und ging zur Tür. »Ist Großmutter schon auf? Ich möchte sie begrüßen.«
»Darauf könntest du ebenso gut verzichten. Sie wird ohnehin immer zerstreuter.«
Elfriede saß seit fünf Jahren im Rollstuhl und hob nicht den Kopf, als Bruno sich zu ihr hinabbeugte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab.
»Wer bist du?«, fragte sie.
»Ich bin Bruno, dein Enkel«, erwiderte er, zog einen Stuhl heran und nahm vor ihr Platz.
»Bruno, ja. Hast du vielleicht Sabine gesehen? Sie wollte mir den Tee holen, ist aber noch nicht zurückgekommen.«
»Nein, ich habe sie nicht gesehen, aber bestimmt kommt sie gleich. Ist alles in Ordnung?«
»Ich bin gelähmt, halb taub und verkalkt. Wie kannst du mir eine so dumme Frage stellen?«
Bruno lachte. Seine Oma schien sich ihren Humor bewahrt zu haben. »Ich habe dir etwas mitgebracht, das dir gefallen wird. Glaube ich jedenfalls.« Er zog das vergilbte Foto aus der Tasche. »Das bist du, nicht wahr?«
Elfriede nahm das Foto mit zitternder Hand und betrachtete es eine Zeit lang, hob dann den Blick zu ihrem Enkel. »Es stammt vom Tag meiner Hochzeit mit Lodovico. Wie jung und schön ich war! Wo hast du es gefunden?«
»In Italien, im Schloss Sandriano. Elena, Lodovicos Enkelin, hat es mir gegeben.«
In den Augen der alten Baronin funkelte es. »Du bist in Sandriano gewesen und dort Lodovicos Enkelin begegnet?«
»Ja, aber ich habe die Wahrheit vor ihr verborgen. Ich habe ihr nicht gesagt, dass du den Krieg überlebt und den Baron Klaus von Odelberg geheiratet hast.«
»Gut so. Er hat mir das, was ich getan habe, nie verziehen. Sag mir, hast du ihn gesehen?«
»Nein. Tut mir leid, Oma, aber Lodovico ist tot. Ich bin gerade rechtzeitig zu seiner Beerdigung im Schloss Sandriano eingetroffen.
»Oh.« Elfriedes Hände schlossen sich um die Armlehnen des Rollstuhls, und sie schwieg einige Sekunden lang. Schließlich sagte sie mit brüchiger Stimme: »Bestimmt hat dich dein Vater dorthin geschickt.«
»Es war meine Idee. Aber er war einverstanden.«
»Kann ich mir denken. Er ist von dem Kreuz regelrecht besessen, so wie es auch dein Opa war. Nimm es mir nicht übel, mein Junge, aber ich glaube, in den Genen der von Odelbergs gibt es einen Hang zum Verrückten. Habe ich dir jemals erzählt, wie sehr ich es bereue, Klaus geheiratet zu haben?«
»Bist du unglücklich mit ihm gewesen?«
»Unglücklich? Das Leben an seiner Seite ist die Hölle gewesen, aber im Grunde genommen habe ich mir das selbst zuzuschreiben – es war Gottes Strafe für mich. Lass dich von deinem Vater nicht für seine Zwecke manipulieren. Das Projekt Leben ist eine unheilvolle Erfindung und sollte ausgelöscht werden!«
»Was sagst du da, Oma? Das Projekt Leben setzt sich auf der ganzen Welt für eine Verbesserung der Lebensbedingungen armer Menschen ein«, erwiderte Bruno und bemühte sich, Gleichmut zu bewahren. »Unsere Forschungen sollen die menschliche Spezies intelligenter, stärker und langlebiger machen.«
»Natürlich!«, entfuhr es der Alten. »Hast du deinen Vater jemals gefragt, warum er das Kreuz von Byzanz haben will?«
»Er erklärt mir nie, warum er irgendetwas will. Er gibt Anweisungen, die ich und alle anderen befolgen.«
Elfriede richtete einen durchdringenden Blick auf ihn. »Frag ihn. Frag ihn, wozu er das Kreuz verwenden will, wenn er es endlich hat. Seine Antwort dürfte dir die Augen öffnen und dich erkennen lassen, was es wirklich mit dem Projekt Leben auf sich hat.«
Tarquinia, 9. November 2006
Mach nichts, was du später bereuen könntest , hatte Enzo am Telefon gesagt.
Noch halb schlafend, sah Elena Nicholas’ Gesicht neben sich und seufzte. Meinte er das damit?, fragte sie sich. Nein, unmöglich. Sie bereute keineswegs, was geschehen war. Ganz im Gegenteil: Nie zuvor hatte sie sich in den Armen eines Mannes so gut gefühlt.
Licht drang durch die Lücken zwischen den Lamellen der Jalousien und zeigte
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