Das Riff der roten Haie
Kapitän … Er kam von einer Insel, die ganz in der Nähe der Gegend liegt, von wo auch ich herkomme. Er kommandierte ein gewaltiges Kriegskanu mit vielen, vielen Männern. So hoch war das Kanu, daß du fünf Kokospalmen übereinanderstellen könntest, und du hättest noch immer nicht die Spitze der Masten erreicht.«
»Das glaub' ich. Mein Vater hat es mir erzählt. In seiner Jugend hat er solche ›Palangi‹-Schiffe gesehen. Hoch wie Berge. Und Segel – wie Wolken.«
»Na ja …«
»Und weiter, Ovaku?«
Sie hockten auf einer Bastmatte vor der Hütte. Er griff aus der Futterschale ein paar Maiskörner und streute sie vor ihre Knie: »Hier, das sind wir.« Dann ging er zum Ende der Matte und legte einen Stein darauf. »Und das ist die ›Palangi‹-Insel. Und dazwischen liegt das Meer.«
Er überlegte: Was war noch der Name für Kapitän? Richtig – ›Pai‹. »Der Pai Bligh und seine Männer fuhren also los und kamen nach einem ganzen Jahr – sie mußten viele Umwege machen – auf den Inseln an. Die ›Bounty‹, so hieß ihr Kriegskanu, ankerte vor Tofoa. Und das ist gar nicht weit von hier.«
»Und dann?«
Wieder einmal war er der große Märchenerzähler und sie das dankbare Publikum. Manche seiner Märchen fand sie idiotisch, unbegreiflich oder einfach nur langweilig, dieses hier schien sie zu interessieren. »Und dann, Tama, passierte, was in solchen Situationen passieren kann: Die Leute von Tofoa wollten ihre Geister nicht verärgern und hielten sich an die Gesetze der Gastfreundschaft. Sie gaben den Palangis zu essen, machten große Kawa-Zeremonien und schickten ihnen die schönsten Fafine, die hübschesten Mädchen.«
»Natürlich!«
»Natürlich.« Er grinste sie an. »Aber da begannen die Schwierigkeiten.«
»Welche, Ovaku?«
»Nun ja, die Männer des Pai dachten, sie wären im Paradies gelandet.«
»Paradies?«
Danach hatte sie ihn schon ein paarmal gefragt. Es war ein Begriff, der nicht in ihren Kopf gehen wollte. Sie konnte einfach nichts damit anfangen.
»Hier … das!« Seine Hand deutete auf die Palmen. »Tonu'Ata. Du … Und alles, was schön ist. Und gut.«
Sie nickte.
»Gut«, sagte er. »Der Pai Bligh aber wollte mit seinem Kriegskanu wieder zurück auf seine Insel. Es gab unter seinen Männern einige, die ihm gehorchten, aber die anderen, die Überzahl, sagten: Nein, wir bleiben.«
»Das wäre bei uns nicht möglich. Bei uns widerspricht kein Mann einem Pai. Sonst …«
»Weiß schon, du Kannibalen-Tochter. Sonst bekommt er mit der Kriegskeule den Schädel eingedonnert, wird in einen Erdofen gesteckt, gar gebraten und gefressen.«
»Du bist ein Idiot, Ovaku! So etwas passiert nur mit Feinden, nie mit eigenen Leuten. – Und dann?«
Es kam der wichtigste Teil der Geschichte. Und er wollte, daß sie ihn verstand. »Sie nahmen dem Pai die Waffen weg und gaben ihm und den Männern, die bei ihm bleiben wollten, Wasser und Essen und ein kleines Boot. Ein sehr kleines Boot. Der Pai und seine Leute fuhren los. Nicht dorthin, wo sie hergekommen waren, das war nun doch zu weit, aber hierhin …«
Er legte einen neuen Stein an die rechte Kante der Matte. »Das hier ist Timor. Timor liegt in Indonesien. Einundvierzig Tage waren sie unterwegs, denn es waren sechstausend Seemeilen, beinahe neuntausend Kilometer. Eine weite, weite Strecke ist das. Und vielleicht die bedeutendste Leistung in der Geschichte der Navigation. So wenigstens behaupten es die Engländer, die Leute aus Blighs Heimat.«
Tama sah ihn lange an. »Und was war mit dem anderen? Diesem Crusoe?«
»Ach der … Der ist nicht so wichtig … Er landete auch auf einer Insel, wurde aber wieder abgeholt.«
Wieder derselbe Blick aus unergründlichen dunklen Augen. »Und warum erzählst du mir das?«
Sie waren am Punkt!
Er legte seinen Zeigefinger auf das Maiskorn, das Tonu'Ata darstellte: »Hier sind wir.« Er schob weitere Körner nach vorne und plazierte sie in einem Abstand von vier Zentimetern vor das erste. »Das hier, Tama, das sind die anderen Inseln von Tonga. Die Inseln, von denen auch Gilbert Descartes immer gekommen ist.«
»Ja.«
»Und? Siehst du es nicht? Sie sind ganz nah. Die Strecke ist winzig.«
Sie schwieg. Dann sah sie ihn an: »Du willst Pai Bligh sein? Ist es das, Ovaku?«
»Das könnte ich nie. Und wollte es auch nicht. – Hör doch zu, Tama: Ist es denn wirklich so schwierig, mich zu verstehen?«
»Nein«, sagte sie. »Du willst weg. Und das ist nicht schwierig, das ist gar nicht zu
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