Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
raus. Die weiteren Erläuterungen fielen nicht mehr ganz so schwer. „Ich bekam heute Morgen einen Anruf von der Leiterin des Hauses, in dem sie nun untergekommen ist. Ich hatte sie telefonisch um Mitteilung gebeten, falls das Mädchen dort auftaucht.“ Warum sagte sie ihm das alles? Sie hätte einfach … aber etwas an seiner Präsenz machte es schwierig, fast unmöglich, ihm etwas Entscheidendes zu verheimlichen.
„Wie konnte das passieren?“
„Möglicherweise hat sie unmittelbar nach der Einnahme erbrochen. Sie machte einen sehr abgemagerten Eindruck, eine Essstörung würde mich nicht wundern. Das konnte ich nicht mehr kontrollieren, weil sie mich sofort nach dem Essen verließ. Eine andere mögliche Ursache ...“
„Ja?“
Sie zögerte. „Nun, das ist natürlich eine Frage der Perspektive. Ich halte es für möglich ...“
„Lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“
„... dass es Menschen gibt, die Gott noch nicht zu sich rufen will. Dass Er noch Pläne mit diesen Menschen hat. Und dass weder die Lebenden noch die Untoten Gottes Plänen in die Quere kommen sollten.“
Palazuelo spuckte angewidert vor ihr aus. „Haben Sie vielen Dank für dieses hilfreiche Erklärungsmodell“, höhnte er. „Ich werde Ihnen jetzt eine neue Flasche geben, und---“
„Ich fürchte, ich muss Ihr Angebot ablehnen.“
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, in der niemand ein Wort sprach, in der die Zeit eingefroren war und sogar das Ticken der Uhr nicht mehr zu hören, als seien sie in einem Gemälde gefangen, das zweihundert Jahre später von gelangweilten Schulklassen im Museum betrachtet wird.
„Wie bitte?“ Die Worte schlichen sich sehr langsam und sehr leise aus seinem Mund.
Auch Anna sprach langsam, als ob sie sich vor jedem Wort erneut überwinden musste weiterzusprechen. Was exakt der Fall war.
„Sie haben richtig gehört. Ich habe mein Möglichstes getan, Herr Palazuelo, und Ihren Auftrag erfüllt, indem ich dem Mädchen das Gift verabreicht habe. Dass es nicht gewirkt hat, lag außerhalb meines Einflussbereichs. Ich habe meinen Auftrag erfüllt. Das müssen Sie anerkennen.“
„Ihr Auftrag lautete, sie zu töten.“
„Sie sagten zu mir, Sie möchten, dass die Sterbliche den Inhalt dieses Fläschchens konsumiert. Das ist geschehen. Für weitere Aufträge stehe ich leider nicht zur Verfügung.“
„Sie wissen, dass Simon Ihre Einstellung nicht sehr schätzen wird.“
„Simon hat mir Gefühle gegeben, von denen ich nicht einmal in meinem weltlichen Leben zu träumen gewagt hatte – geschweige denn in meinem Leben für den heiligen Franziskus. Aber der Preis ist zu hoch, Herr Palazuelo. Der Preis ist zu hoch.“
„Sie stecken zu tief drin, um einfach aufzuhören.“
„Ja, ich weiß. Es gibt Situationen im Leben, da kann man nicht einfach aussteigen.“ Sie holte tief Atem und fügte schließlich hinzu: „Aber wenn das Gewissen es gebietet, muss man es dennoch tun.“
Er nickte. „Das verstehe ich natürlich.“
„Ich danke Ihnen.“
„In welchem Etablissement ist unsere gemeinsame Freundin denn untergekommen?“
Sie atmete tief ein, dann wieder aus. Und noch einmal. „Sie werden verstehen, Herr Palazuelo – wenn ich Ihnen das mitteile, kann ich die Sache auch gleich selbst erledigen.“
Während er sprach, knackte Palazuelo in ruhigem Rhythmus mit seinen Knöcheln: „Ich interpretiere also korrekt, dass Sie sich entschieden haben, jegliche Kooperation mit uns von diesem Moment an einzustellen?“
„Es fällt mir nicht leicht, aber ich muss es tun.“
„Das ist schade“, seufzte er. „Das ist außerordentlich bedauerlich. Aber ich respektiere selbstverständlich Ihren Wunsch und werde keine weiteren Versuche unternehmen, Sie zu Dingen zu überreden, die möglicherweise nicht mit Ihrem strengen Gewissen konform gehen.“
Dann begann er zu lächeln. Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen, und dieses ging über in ein breites Zähnefletschen, das die beiden Fangzähne im Licht der Deckenlampe glänzen ließ.
50. Kapitel
Lea schreckte hoch. Was war das? Hatte sie geschlafen? Wo war sie? Und wann? Und warum war sie nackt?
„Eins nach dem anderen“, sagte sie flüsternd zu sich selbst und blickte sich um. Sie lag in einem Bett, das irgendwie nach Jugendherberge roch. Richtig, das Haus Zuflucht . Sie hatte sich in zwei Decken gewickelt und ihre stinkenden Kleider in die Waschmaschine im Keller des Hauses gestopft – bis auf den Ledermantel, den sie mit
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