Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
hatte.
Er durfte in seinen Kreisen keine Schwäche zeigen. Nicht einen Moment lang. Und sie hatte ihn schwach gesehen. Allein die Angst, dass andere davon erfahren könnten, zwang ihn, an ihr ein Exempel zu statuieren, das ihn bis auf weiteres wieder als Rudelführer legitimierte.
Er würde ihr keinerlei Gnade oder Aufschub gewähren, weil er es sich nicht leisten konnte.
Innerlich lachte sie über ihre Naivität. Er hatte nicht einmal eine Quittung. Ha ha. Offensichtlich hatte sie sich in seinem kriminellen Potential so sehr verschätzt wie selten in ihrem Leben. Oder vielleicht hatte sie auch einfach nicht darüber nachgedacht, weil sie nur ihren Vater und den Computer und die Projektwoche im Kopf hatte, und später war ohnehin keine Gelegenheit mehr zum Nachdenken gewesen ...
Ironischerweise hatte sie sich, wie sie nun erkannte, durch ihren Appell an seine Menschlichkeit noch tiefer hineingeritten. Genau so wollte er nicht, durfte er nicht sein. Und sie hatte noch den Finger in die Wunde gelegt.
Wieder schwindelte ihr, und sie überlegte, ob sie wohl das Bewusstsein verlieren und ohnmächtig, schmerzlos verbluten würde, bevor er ... bevor er das tun konnte, was er vorhatte.
Was immer das war, Bewusstlosigkeit schien die bessere Alternative zu sein.
Das alles schien einer anderen Person zu passieren. Fast schien ihr, als sähe sie sich selbst, wie sie in diesem alten Mercedes saß, umringt von grobschlächtigen Jungs und einem blonden Irokesen, blutend und erschöpft. Bar jeglichen Zeitgefühls, hätte sie nicht sagen können, wie lange es dauerte, bis der Wagen endlich hielt. Sie sah sich um, beinahe erschrocken, wie aus einer Trance erwachend. Die Blutung hatte aufgehört, der Schmerz war noch da, pochend und durchdringend. Schnee bedeckte die Aussicht, die sich ihr bot: eine unverputzte Mauer, ein Haufen Pflastersteine, unebener Boden, tiefe Reifenspuren. Eine Baustelle, verlassen über die Feiertage oder vielleicht auch über den Winter.
Jörg zog sie am Kragen ihres Mantels nach draußen, sie geriet mit dem falschen Bein auf den Boden und stürzte, der festgefrorene Schnee stach in ihr Gesicht und ließ jedes Trancegefühl verschwinden, plötzlich wurde ihr wieder klar, dass dies kein Alptraum war, sondern vielleicht der frustrierende, unwürdige Schlusspunkt ihres zuletzt immer frustrierenderen, unwürdigeren Lebens. Entweder gab es doch so etwas wie Karma, dann war wahrscheinlich im letzten Leben sie selbst die Mörderin oder das Monster gewesen. Oder das Leben war einfach verdammt gemein und ungerecht.
Sie wurde von beiden Seiten unter den Achseln gefasst und zu der halbfertigen Mauer geschleift, neben der die Pflastersteine lagerten. Der Schneidezahnlose und ein Zweiter, der mindestens zwei Meter groß zu sein schien, hielten jeweils einen ihrer Arme fest und ließen sie erst los, als sie mit dem Rücken gegen die Wand lehnte. Aber sie blieben direkt neben ihr stehen, wie zwei aufgerichtete Kobras, die jederzeit zustoßen konnten.
Jörg baute sich vor ihr auf, während die anderen beiden etwas abseits an irgendeiner Maschine hantierten, die wohl von den Bauarbeitern vergessen oder bis zur Fortsetzung der Bauarbeiten einfach hiergelassen worden war.
„Wir haben uns hier versammelt, um Sühne für ein Vergehen zu fordern, das die Gemeinschaft außerordentlich belastet“, erklärte Jörg in erstaunlich gewandter Wortwahl. Wieder wurde ihr bewusst, dass er keineswegs dumm war. Dennoch musste irgendetwas in seiner geistigen Entwicklung grässlich schiefgelaufen sein. Vielleicht war sein Vater ein Vampir, dachte sie bitter.
„Ein geschäftlicher Vorgang, eine Abmachung im Vertrauen gegen Vertrauen, endete mit Lug und Betrug seitens der Person, die das Geschäft initiierte.“ Er hatte seine Klinge wieder gezückt und wedelte jetzt wichtig damit in der Luft herum. „Der Gnade des Gerichts ist es zu verdanken, dass in diesem schweren Fall nicht die Höchststrafe ausgesprochen wurde.“
Nicht die Höchststrafe? Sollte das heißen, sie wäre morgen früh noch am Leben? Das war ja immerhin eine Aussicht. Vielleicht gab es doch noch einen Unterschied zwischen einem zu stark geratenen Teenager und einem kaltblütigen Mörder.
„Stattdessen lautet das Urteil ...“
Das folgende lange Schweigen zwang Lea, trotz ihrer Furcht das Wort zu ergreifen.
„Mach's nicht so spannend“, stieß sie hervor. „Du hast mich doch da, wo du mich wolltest. Ich stehe hier und bin dir ausgeliefert, und deine
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