Das Rosenhaus
meisten brauchtest. Als ich
dich am meisten brauchte.«
Sie wussten beide sofort, dass sie jetzt nicht mehr über seinen
Unfall redeten.
Sie wandte das Gesicht ab, und er seufzte.
»Warum redest du nicht mit mir, Lily …«
Aus seiner Stimme sprach ein solcher Schmerz, ein solches Flehen,
dass sie sofort wieder genau das empfand, was sie immer empfand, wenn es um
dieses Thema ging: Als würde jemand ihr ein stumpfes Messer in den Bauch rammen
und sie brutal aufschlitzen.
»Lily. Bitte. Was mit Daniel passiert ist … Niemand konnte etwas
dafür. Wir können niemandem die Schuld geben, und wahrscheinlich ist es genau
darum so verdammt hart … Wir können niemanden anschreien, auf niemanden
einschlagen … außer auf uns selbst … Ich weiß, dass ich ein Ekel gewesen bin,
aber wenn ich ehrlich bin, wollte ich dir wohl nur zeigen, wie ich mich gefühlt
habe, als ich vollkommen außen vor war, als du mich nicht mehr an dich
herangelassen hast, obwohl wir die Sache doch gemeinsam hätten durchstehen müssen … Ich weiß, das ist unverzeihlich, es tut mir
unendlich leid, aber ich war einfach nicht ich selbst, ich konnte nicht mehr
klar denken, ich habe alles versucht, um uns zusammenzuhalten … Und als dann
der Unfall kam und die Schmerzen und die vielen Medikamente, da bin ich einfach
komplett abgedreht … Ich habe dich so gebraucht, Lily, ich brauche dich immer
noch, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Du bist der einzige
Mensch auf der Welt, der weiß, wie sich das anfühlt, niemand außer uns weiß,
wie das war, ihn zu verlieren … Und du hast mich einfach nicht an dich
herangelassen …« Er nahm jetzt auch noch ihre andere Hand und sah ihr direkt in
die Augen. Er war sicher, dass aus ihnen dieselbe Verzweiflung, Wut und Trauer
sprechen würde wie aus seinen.
Sie hielt kurz die Luft an. Sammelte sich. Senkte den Blick. Und
fragte mit gebrochener Stimme:
»Liebst du mich noch, Liam?«
Dass sie überhaupt glaubte, ihn das fragen zu müssen, tat ihm weh.
»Natürlich liebe ich dich … Das hört nicht einfach so auf, Lily. Das
hört nie auf. Hier« – er drückte seine und ihre Hände gegen seine Brust – »mein
Herz schlägt für dich, Lily. Aber trotzdem gibt es gewisse Dinge, über die wir
reden müssen. Wir müssen, Lily.«
»Warum …«, schluchzte sie so herzzerreißend, dass er sie wieder an
sich zog und so fest an sich drückte, dass er ihren Herzschlag spüren konnte.
Er drückte seine Wange auf ihre Haare und sog den vertrauten, fremden Duft ein.
»Weil es uns kaputtmacht, wenn wir es weiter wegsperren, Lily«,
flüsterte er.
»Ja, aber verstehst du denn nicht? Ich konnte nicht anders, als es
wegzusperren! Sonst hätte ich mich schon längst umgebracht!«
Er trat einen Schritt zurück und nahm ihr Gesicht in beide Hände.
Küsste ihre tränenüberströmten Wangen.
»Natürlich verstehe ich das, Lily, natürlich verstehe ich das …«,
flüsterte er. »Aber so etwas kann man nun mal nicht auf Dauer wegsperren …
Irgendwann fängt es an, einen von innen her aufzufressen.«
Warum konnte sie nicht mit ihm reden? Vielleicht aus dem gleichen
Grund, aus dem sie es mit Nathan konnte. Wenn sie Nathan in die Augen sah, war
da nichts als aufrichtige Sorge und Mitgefühl. Wenn sie Liam in die Augen sah,
erblickte sie ihren eigenen Schmerz, gleichsam verdoppelt, wie durch ein
Vergrößerungsglas, und er drohte sie zu verschlingen. Wie sollte sie diesem
Mann, dem die Trauer so gnadenlos ins Gesicht geschrieben stand, sagen, dass
sie seinen Schmerz nicht mit ihm teilen konnte, weil sie nicht einmal ihrem
eigenen Schmerz gewachsen war? Wie ihm erklären, dass sie das Gefühl hatte, ein
Teil von ihr selbst sei gestorben, als ihr Sohn geboren wurde … und so kurz
darauf starb? Wie sollte sie ihm sagen, dass alles, was sie tat, jede Minute
des Tages, nichts anderes als eine Strafe für sie war? Morgens allein
aufwachen. Das Bild dort aufhängen, wo sie es jeden Tag sehen und jedes Mal bei
seinem Anblick jenen unmenschlichen Schmerz empfinden würde, der sie
schüttelte, als es passierte …
Sie war Daniels Mutter.
Eltern waren dazu da, ihre Kinder vor allem Übel zu bewahren, oder?
Sie hatte versagt. Sie hatte ihren Sohn im Stich gelassen.
»Ich habe es verdient, unglücklich zu sein, oder? Ich habe es
verdient, den Rest meines Lebens in Trostlosigkeit und Verzweiflung zu
verbringen …«
»Nein, Lily … NEIN ! Das hast du nicht!« Er erhob die
Stimme, um irgendwie zu ihr
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