Das Rosenhaus
als der Vorgesetzte mit
einem Gefolge aus jungen Ärzten und der Stationsschwester den Raum betrat.
Anthony Edwards war groß und ergraut, ihn umgab die Aura eines
Mannes, der es gewohnt war, dass man ihm zuhörte, sobald er den Mund aufmachte.
Lily hegte keine großen Sympathien für ihn – nur die Hoffnung, dass er ihrem Mann
wieder auf die Beine helfen konnte. Er behandelte sie nicht wirklich
herablassend, nur wie ein sensibles Kind, das man mit Samthandschuhen anfassen
musste, damit es keinen Tobsuchtsanfall bekam.
Er stellte sich am Fußende des Bettes auf. Sofort reichte der
freundliche Assistenzarzt ihm die Krankenakte, in die er eben noch vertieft
gewesen war.
»Wie geht es Ihnen heute, Mr. Bonner?«, erkundigte Dr. Edwards sich,
ohne von der Krankenakte aufzusehen.
Er schien nicht weiter beunruhigt, dass Liam ihm nicht antwortete,
und richtete den Blick von den Unterlagen direkt auf Lily.
»Kann ich bitte kurz mit Ihnen sprechen?«
Lily wusste nicht, was schlimmer war – wenn die Ärzte nichts sagten,
oder wenn sie plötzlich etwas zu besprechen hatten. In beiden Fällen sackte ihr
regelmäßig das Herz in die Hose.
Sie nickte und dankte Gott, dass Liam wieder eingeschlafen war und
somit nicht sehen konnte, wie sehr sie gegen die Angst ankämpfte. Sie erhob
sich und folgte dem Arzt auf den Gang, wo er mit der ihm eigenen Seelenruhe
weitersprach. So sprach er immer, ganz gleich, welcher Art seine Mitteilungen
waren.
Er war mit dem Heilungsprozess von Liams rechter Oberschenkelfraktur
nicht zufrieden. Er wollte operieren. Den Knochen noch einmal brechen, makellos
zusammensetzen, verschrauben und das Bein dann eingipsen. Bisher hatte man das
Bein lediglich mit einer Schiene stabilisiert.
Lily schwieg. Sie musste das erst einmal verdauen. Man wollte seinem
ohnehin schon geschundenen Körper absichtlich Schaden zufügen.
Dr. Edwards sah, wie sie innerlich zusammenzuckte, wie sie
erschauderte bei der Vorstellung. Er rief sich in Erinnerung, dass er es nicht
nur mit gebrochenen Knochen zu tun hatte, sondern auch mit Menschen, deren
Gefühle er respektieren musste.
»Ich weiß, dass die Vorstellung ganz und gar grauenhaft ist … Aber
manchmal …« – seine Miene bekam plötzlich weiche, menschliche Züge – »…
manchmal müssen gewisse Dinge erst richtig kaputt gemacht werden, damit man sie
vollständig reparieren kann, so pervers das auch klingt.«
9
D er Mai kam,
und mit ihm einige Veränderungen.
So sehr Lily sich vor dem neuerlichen Eingriff gefürchtet
hatte, er bedeutete offenbar einen Wendepunkt für Liam. Langsam vollzog sich
die körperliche Genesung. Die Schrauben und Gipsverbände machten ihm mindestens
genauso zu schaffen wie die Verletzungen selbst. Aber er war auf dem richtigen
Weg. Und auch sein Geist schien sich gut zu erholen. Das Schwindelgefühl, die
Übelkeit und der Gedächtnisverlust ließen nach, und er konnte nach und nach
wieder normal sprechen und schlafen.
Er machte gute Fortschritte, und Ende des Monats wurde beschlossen,
dass er, falls die nächsten Wochen ähnlich gut verliefen, schon bald nach Hause
entlassen werden konnte.
Lilys erster Gedanke war, mit ihm nach London zurückzukehren.
Was sollten sie denn jetzt noch hier?
Liam würde jetzt sicher einsehen, dass ihnen der Umzug nach Cornwall
nur Unglück gebracht hatte.
Doch sie hatte sich getäuscht.
»Warum?«, fragte er, als sie ganz vorsichtig und ruhig davon sprach.
»Warum sollen wir zurück nach London? Hier ist doch unser Zuhause, und Peters
und meine Firma … Was sollen wir in London?«
Sie wusste nicht, was sie ihm antworten sollte.
Bat ihn, noch einmal darüber nachzudenken, und versprach ihm, dies
ebenfalls zu tun.
Je mehr sie darüber nachdachte, desto klarer sah sie. Er hatte
recht. Was sollten sie in London? Er sehnte sich so sehr danach, wieder
arbeiten zu können. Und überhaupt, wie sollte sie ohne Peter klarkommen? Peter
war in den letzten Wochen ihr Fels in der Brandung gewesen. Ohne ihn hätte sie
das alles nicht überlebt. Und sie hatte das Gefühl, dass sie ihn in den
kommenden Monaten vielleicht noch viel mehr brauchen würde.
Ein Gefühl, das nur wenige Tage später bestätigt wurde, als sie ganz
allein im Rose Cottage saß und darüber nachdachte, wie Liam denn bloß in diesem
halbfertigen Haus zurechtkommen sollte.
Als Peter hereinkam, saß Lily am Küchentisch, den Kopf in die Hände
gestützt. Vor ihr lag ein weißes Blatt Papier, in der linken Hand hielt sie
einen
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