Das Rosenhaus
Sein
dickes, struppiges rotes Haar stand ihm jedenfalls bei Wind und Wetter zu
Berge. Zusammen mit seinem strahlenden Lächeln hätte er glatt mit einem
Leuchtturm konkurrieren können.
Whip, vermutlich Mitte fünfzig, war klein und schweigsam. Er grüßte
immer nur durch ein Nicken, nie mit Worten.
Es war Lily von Anfang an schwergefallen, Proctors Alter zu
schätzen. Von seiner Kleidung her zu schließen, stammte er aus einem ganz
anderen Jahrhundert. Seine runzlige, dunkle Haut glich der eines Walrosses,
seine Haltung war aufrecht und stolz, und er grüßte stets mit einem lauten,
klaren »Myttin da«, was laut Abi »Guten Morgen« auf Kornisch hieß.
Heute hatten die Männer zu tun, winkten ihr aber dennoch, und sie
blieb stehen und sah ihnen eine Weile bei der Arbeit zu. Sie war so sehr darauf
konzentriert, dass sie den anderen Zuschauer am Ende der gebogenen Hafenmauer
nicht sofort bemerkte.
Der Mann beobachtete sie und die Fischer. Lily kannte ihn nicht. Er
lächelte ihr zu, und als Lily seine Kamera sah, nahm sie an, er sei ein
Tourist. Doch dann hob er die Kamera und machte ein Foto.
Daran war so weit nichts Ungewöhnliches, schließlich waren Orte wie
Merrien Cove wohl bis in den letzten Winkel in den Urlaubsalben von
Sommergästen aus aller Welt verewigt. In diesem Fall war die Linse aber nicht
auf den Ort oder die Landschaft gerichtet, sondern auf Lily.
Verwirrt trat sie einen Schritt zurück. Das ging doch ein bisschen
zu weit, fand sie.
Hatte er sie etwa gerade fotografiert?
Einerseits hätte sie ihn gerne zur Rede gestellt, andererseits
wollte sie sich am liebsten umdrehen und schnell verschwinden. Die beiden
gegenläufigen Impulse lähmten sie.
Dann sah sie etwas genauer hin und stellte fest, dass die Kamera
genauso gut auf die Landschaft hinter ihr gerichtet sein konnte.
Lily war das alles nicht geheuer. Sie drehte sich um und ging.
Die junge Frau hatte so überrascht ausgesehen, als er sie
fotografierte, dass Nathan fast gelacht hätte. Seine Vernunft warnte ihn jedoch
und ermahnte ihn, sich zu entschuldigen und ihr zu erklären, dass er unüberlegt
und spontan gehandelt hatte.
Wie ein Gemälde seines Lieblingsmalers Rosetti hatte sie ausgesehen
mit ihrem dunklen, weichen Haar, den geröteten Wangen und den großen grauen
Augen, die so ernst schauten.
Es war wie ein innerer Zwang gewesen, er hatte die Szene einfach festhalten
müssen. So ging es ihm immer, wenn er etwas sah, das ihn faszinierte oder
bewegte.
Er wollte es verewigen.
Er wollte den Moment jederzeit wieder betrachten können.
Er hielt sich selbst nicht für religiös, aber dennoch empfand er die
Welt als ein einziges großes Wunder, und all ihre sichtbaren Facetten konnten
in seinen Augen gar nicht hässlich oder abstoßend sein.
Schönheit lag im Auge des Betrachters, und Nathan konnte selbst in
Dingen etwas Schönes entdecken, das sich den meisten Menschen nicht erschloss.
Nicht, dass die Schönheit dieser jungen Frau verdeckt gewesen wäre.
Er wusste, dass auch andere sie als schön bezeichnen würden. Und das lag nicht
nur an ihrer Figur, ihrem hübschen Gesicht und den im Wind flatternden Haaren,
sondern auch an der Traurigkeit und Zerbrechlichkeit, die sie ausstrahlte.
Erst beim dritten Foto bemerkte sie, was er da tat, und sie sah so
verletzt aus, dass er es fast bereute, mit der Kamera eine Grenze überschritten
zu haben.
Das Einfachste war nun, sie glauben zu lassen, sie habe sich geirrt.
Darum hielt er sich die Kamera wieder vor die Nase und richtete sie so aus, als
fotografiere er irgendetwas links hinter ihr, und als sei sie ihm nur zufällig
ins Bild geraten.
Es funktionierte. Die Frau warf einen kurzen Blick über die linke
Schulter und sah, dass sie vor der Galerie stand, die stets ein beliebtes
Touristenmotiv war. Peinlich berührt eilte sie davon, tauchte in den Schatten
des Windenhauses ein, bis sie hinter dessen runder Mauer verschwand.
16
N athan hatte
den ganzen Tag im Studio verbracht.
Als er nach Hause kam, war Abi in der Küche.
Zu den üblichen Jeans und einem riesigen Pulli, den sie dem bunten,
wenig stringenten Muster nach zu schließen selbst gestrickt hatte, trug sie die
pinkfarbenen Hüttenschuhe, die er nicht ausstehen konnte und mit deren
Konfiszierung er jedes Mal, wenn er sie sah, drohte. Sie hörte Radio, ihr Haar
sah noch wilder aus als sonst, und sie sah erhitzt aus. Sie bügelte nämlich
gerade seine Sachen, die sie zuvor seinen Protesten zum Trotz aus dem Koffer
geholt
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