Das Rosenhaus
grenzenlos gewesen, das hatte er genau
gespürt.
Er wusste, dass es eine gute Idee war, Dylan im Rose Cottage
unterzubringen, er konnte ihr wirklich so einiges abgewinnen – trotzdem hatte
er gemischte Gefühle.
Natürlich war Dylan sein Freund, in seinen Augen mittlerweile sogar
ein guter Freund, aber ursprünglich und vornehmlich war er nun mal seine
Pflegekraft. Das sorgte für eine seltsame Dynamik in der Beziehung. Liam war
der Arbeitgeber, der Ältere, dem Dylan sich des Öfteren beugen musste.
Gleichzeitig war ihre Beziehung in gewisser Hinsicht zutiefst intim, weit über
das Maß einer normalen Beziehung hinaus.
Dass Dylan Liam spaßeshalber »Dad« nannte, änderte natürlich nichts
daran, dass ausgerechnet er Liam umsorgte, wie es seit langer, langer Zeit
niemand mehr getan hatte.
Liam hatte Dylan gerne um sich. Ja, verdammt, er würde sogar so weit
gehen zu sagen, dass er den Jungen liebte. Wenn sie zusammen waren, redeten sie
nicht immer nur über Liam. Liam kannte inzwischen Dylans komplette
Lebensgeschichte, und die war nichts für Zartbesaitete. Der Junge hatte es
alles andere als leicht gehabt.
Er hatte viel darüber nachgedacht, was wohl schlimmer war:
liebevolle Eltern zu verlieren oder Eltern zu haben, die sich nicht für einen
interessierten?
Liam fragte sich, wie sich alles entwickelt hätte, wenn seine Eltern
noch am Leben gewesen wären. Wie wären sie mit allem, was passiert war,
umgegangen?
Nach dem Tod seiner Eltern hatte er einen Teil seiner selbst
ausgeschaltet. Den Teil, der ständig hätte heulen können, den Teil, der einen
Nervenzusammenbruch erleiden wollte, den Teil, der nicht pragmatisch und stark
sein wollte. So hatte er es geschafft, es hatte funktioniert. In der Folge
hatte er immer seltener an seine Eltern gedacht. Und als er dann Lily kennenlernte,
beschloss er, sich von nun an vollends auf die Gegenwart und die Zukunft zu
konzentrieren und die Vergangenheit für immer ruhen zu lassen.
Doch seit seinem Unfall war es ihm ungeheuer schwergefallen, das
weiter durchzuhalten. Vor allem nachts, wenn er wegen der Schmerzen nicht
schlafen konnte.
Dann lag er in seinem Bett und dachte an Lily, die allein im ersten
Stock schlief, und an das, was sie schon alles gemeinsam durchgemacht hatten.
Und die Schlaflosigkeit nahm zu.
Er war kein Mann, der die »Warum ich?«-Frage stellte. Dinge
passierten, und man ging mit ihnen um, fertig, so war das Leben. Und so riss er
sich auch in den dunklen Stunden immer wieder zusammen und zwang sich, das
Positive zu sehen.
Zum Beispiel war positiv, dass die Ärzte davon sprachen, die Bandage
an seiner rechten Hand zu entfernen, weil die Hand schon wieder so stark war.
Und wenn er erst die Bandage los war, würde er sicher auch bald den Rollstuhl
loswerden.
Er hatte sich nicht mehr mit einer solchen Inbrunst auf etwas
gefreut, seit er als Kind Weihnachten entgegenfieberte. Dieser verdammte
Rollstuhl. Wenn das Krankenhaus nicht ohnehin knapp bestückt wäre, würde er ihn
am liebsten über die Klippe schieben, sobald er ihn nicht mehr brauchte.
Wieder beide Hände benutzen können. Beide. Er machte Dylan gegenüber
oft Witze, er könne sich nicht einmal gleichzeitig die Zähne putzen und den
Hintern abwischen. Aber eigentlich war das gar kein Witz.
Er fühlte sich so nutzlos. So unendlich nutzlos.
Vor allem, wenn er mit Lily zusammen war.
Die Kluft zwischen ihnen wurde immer breiter und tiefer. Aber wie
sollte er etwas dagegen tun, wenn er hilflos wie ein Baby, aber längst nicht so
niedlich war?
Sie war schon lange vor dem Unfall nicht glücklich gewesen. Wie
mochte es ihr jetzt wohl gehen? Er wusste es ja, sie war unglücklich. Sie waren
beide unglücklich. Aber wie sollte er sie glücklich machen, in seinem Zustand?
Was nützte er ihr überhaupt noch? Er war nicht mehr ihr Mann. Er war
verdammt noch mal gar kein Mann mehr!
Alle sagten sie ihm, er solle Geduld haben, bis sein Bein wieder in
Ordnung sei, dann würde alles wieder gut.
Die Zeit heilt alle Wunden, so sagt man ja.
Aber wie viel Zeit blieb ihm noch, bis sie von der Situation die
Nase voll hatte und tatsächlich die Koffer packte und ihn verließ?
Es wäre besser gewesen, wenn sie damals gegangen wäre, am Tag seines
Unfalls.
Vielleicht war es in Wirklichkeit das, was sie wollte?
Wollte Lily gehen?
Nein. Nein. Nein.
Lily würde ihn niemals verlassen. Sie waren ein gutes, ein starkes
Paar. Sie hatten immer gesagt, gemeinsam würden sie alles durchstehen. Solange
sie
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