Das Rosenhaus
Knien aufgerissene Jeans und ein
kragenloses, weißes Hemd, das nach Künstler, aber auch sehr teuer aussah.
Wenn Lily in dem Augenblick sie selbst gewesen wäre, wäre ihr sicher
außerdem aufgefallen, wie verdammt gut er aussah. Wie seine vollen Lippen die
etwas eckige Nase ausglichen und wie seine großen, intelligenten, von dichten
Wimpern umrahmten Augen blass blaugrün schimmerten, wie gut sein Körper
proportioniert und trainiert war, wie warm, sanft und trocken seine Hand in
ihrer lag und wie gepflegt seine Fingernägel im Gegensatz zu ihren waren, an
denen sie in letzter Zeit zu oft kaute.
Es war eine Schande, dass sie all das nicht wahrnahm, denn sicher
hätte sie ihn bewundert, wie man ein schönes Gemälde im Museum bewundert oder
eine Skulptur von Michelangelo. Aber sie war zu sehr mit ihrem eigenen
Unbehagen beschäftigt, als dass sie das vor ihren Augen Sichtbare schätzen
konnte.
Abi, die der Inbegriff der stolzen Mutter war – und zu Recht, wie
sie fand –, liebte es, mit ihrem Sohn vor Freunden, Bekannten und sogar Fremden
anzugeben.
Und so freute sie sich auch sehr, ihn Lily vorstellen zu können,
denn Lily hatte ja, was Nathans künstlerische Arbeit betraf, bereits ihre
Bewunderung geäußert.
»Lily ist ganz begeistert von deinen Arbeiten, Nathan. Eines deiner
Bilder hat sie schon, und auf ein zweites hat sie bereits ein Auge geworfen.«
Er lächelte bescheiden. Zwar war er die Lobhudeleien seiner Mutter
seit Jahren gewöhnt, aber sie waren ihm immer noch irgendwie unangenehm. Ihn
tröstete, dass Lily noch peinlicher berührt wirkte als er selbst.
»Sind Sie Sammlerin?«
»Nein, aber in Sachen Kunst weiß ich, was mir gefällt …«
»Lily hat früher in London in einer Galerie gearbeitet«, verriet Abi
ihrem Sohn.
»Ach ja? In welcher denn?«
»David Lithney, ganz in der Nähe vom Soho Square. Schon mal davon
gehört?«
Er strahlte sie an.
»Sie machen Witze! David Lithneys Enkel Sebastian und ich kennen uns
ziemlich gut. Haben zusammen studiert, also, nicht das gleiche Fach, aber
gleicher Jahrgang. Ich schaue immer noch hin und wieder in der Galerie vorbei.
Seltsam, dass wir uns da noch nie begegnet sind.«
»Sind wir ja vielleicht.«
Lächelnd schüttelte er den Kopf.
»Daran würde ich mich ganz bestimmt erinnern.« Um sie nicht noch
mehr in Verlegenheit zu bringen, sprach er weiter über seinen Freund.
»Dann müssen Sie Sebastian ja auch ziemlich gut kennen … Wie finden
Sie ihn?«
Sie nickte langsam.
»Ich mag ihn sehr gern … vor allem seinen Humor …« Lily erinnerte
sich an eine Anekdote. »Einmal hatten wir eine Mondrian-Privatausstellung für
einen unserer etwas schwierigen Kunden, und als der Kunde auftauchte, hatte
Sebastian das Bild mit einer Kopie ausgetauscht, die er selbst gemalt hatte …«
»Typisch Seb!« Seine Augen blitzten auf.
»Das Beste war, dass der Kunde es gar nicht bemerkte«, lachte Lily,
»und uns viel zu viele Nullen für einen originalen Seb Lithney gezahlt hat …
Wenn sein Vater das gewusst hätte, hätte er ihn umgebracht …«
»Aber letztendlich bekam der Kunde dann doch wohl sein
Mondrian-Original, oder?«
»Na ja, da Seb das Bild auf die Rückseite einer Cornflakespackung
gemalt hatte, war uns schon klar, dass der Austausch nicht ewig unbemerkt
bleiben würde!«
Abi freute sich, dass ihr Sohn und ihre neue Freundin sich so gut
verstanden, und verdrückte sich, um mit ihrem endlich angeschafften
Wasserkocher Kaffee zu machen.
»Und was machen Sie jetzt? Arbeiten Sie in einer der Galerien hier
in der Gegend?«
»Nein, dabei fehlt mir meine Arbeit wirklich sehr«, gestand sie zu
ihrer eigenen Überraschung.
»Kann ich gut verstehen. Ich lebe quasi für meine Arbeit.«
Sein mitfühlendes Lächeln war so echt, dass sie endlich den Mut
fand, auszusprechen, was an ihr genagt hatte.
»Tut mir leid wegen neulich. Ich will nicht hoffen, dass ich eins
Ihrer tollen Bilder verhunzt habe.«
Er sah sie an, als habe er keinen Schimmer, wovon sie redete.
»Na, das Foto, das Sie gemacht haben. Am Hafen. Ich bin Ihnen ins
Bild gelaufen.«
»Nein, sind Sie nicht.«
Es überraschte sie beide, mit welcher Leichtigkeit er das sagte. Er
beobachtete sie aufmerksam, um ihre Reaktion einschätzen zu können.
Sie machte ein genauso irritiertes Gesicht wie an jenem Tag, als sie
glaubte, er habe sie fotografiert. Am liebsten hätte er gegrinst, aber er
versuchte stattdessen, zu deeskalieren, indem er ganz sachlich sagte: »Ist eine
tolle
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