Das Rosenhaus
auf
bescheidene Weise glamourös. Wenn ihre Freundin sie in den letzten Wochen
gesehen hätte … Wie immer, wenn Lily an Ruth dachte, nahm sie sich vor, sich
bei ihr zu melden. Und wie immer wusste sie, dass daraus nichts werden würde.
Voller Schuldgefühle wandte Lily sich von ihrem Spiegelbild ab und
ging hinunter, um zu sehen, wie weit Liam war.
Liam saß in seinem Rollstuhl am Erkerfenster des
Arbeitszimmers und las. Er trug wie üblich einen Jogginganzug und hatte
offenbar ganz vergessen, dass sie essen gehen wollten.
Er sah auf, als Lily leise anklopfte und das Zimmer betrat, und als
er sie erblickte, konnte er seine Überraschung und Bewunderung nicht verbergen.
Allein dieser Blick war all die Mühe schon wert gewesen.
Doch dann schloss sich eine Tür.
Der anerkennende Blick verschwand, und er sagte mürrisch: »Du bist
ja aufgebrezelt. Gehst du aus?«
Lily runzelte fragend die Stirn.
»Nein, wir .«
» Wir ?«
»Ja. Wir gehen essen.«
Er sah sie an, als hätte sie soeben vorgeschlagen, einen Spaziergang
über die Steilküste zu unternehmen.
»Wir haben doch gestern noch darüber gesprochen. Peter möchte uns
jemanden vorstellen. Seine neue Freundin. Wendy.«
Liams Augenbrauen zogen sich zusammen, und er machte ein finsteres
Gesicht.
»Und dafür müssen wir auswärts essen gehen. Warum?«
»Warum nicht?«, konterte sie leichthin. Sie war fest entschlossen,
es nicht zu einem Streit kommen zu lassen.
»Vielleicht will ich nicht. Vielleicht ist auswärts essen gehen
nicht gerade das, was man tun möchte, wenn man seine Glieder nicht bewegen kann
und auf einen Metallhaufen auf Rädern angewiesen ist, um von A nach B zu
kommen.«
Statt sich wie üblich zurückzuziehen, sah sie ihm direkt ins Gesicht
und bot ihm Paroli: »Und vielleicht geht es dieses Mal ausnahmsweise nicht um
dich, sondern vielleicht geht es heute zur Abwechslung um etwas, was jemand
anderem sehr wichtig ist, und vielleicht ist dieser Jemand zufällig dein bester
Freund. Du hast ihm versprochen, dass du mitkommst, und ich finde, du solltest
dein Versprechen halten.«
Er wusste, dass sie recht hatte, und gab kein Widerwort.
»Also, machst du dich jetzt fertig?«, fragte sie nach längerem
angespanntem Schweigen.
Er nickte.
»Brauchst du Hilfe?«
»Nein«, log er.
»Gut.«
Sie drehte sich um und ging nach oben.
Jedes Mal, wenn sie die Treppe hinaufging, zog sie eine klare
Grenzlinie zwischen ihnen. Eine, die er nicht überschreiten konnte.
Er sah, wie sie sich entfernte, ohne sich noch einmal umzudrehen,
dann rollte er Zentimeter für Zentimeter unter großen Mühen einhändig zurück in
sein Schlafzimmer, dessen Einrichtung er hasserfüllt beäugte.
Das Krankenhausbett, das per Knopfdruck hoch- und runtergefahren
werden konnte – völlig überflüssig, wie er fand, ein normales Bett hätte es
doch auch getan –, das sich direkt anschließende Badezimmer, in das jeder
hineinsehen konnte, weil es keine Tür hatte. Die Schranktür, die per Knopfdruck
zur Seite glitt, die Kleidung, die so eingeräumt war, dass er selbst herankam.
Es war alles so durchdacht, so gut gemacht. Und doch unterstrichen all die
Dinge, die ihm das Leben erleichtern sollten, in seinen Augen nur, wie verdammt
hilflos er war und wie nutzlos er sich fühlte.
Er wusste, dass er mithilfe seiner gesunden Hand aus dem Rollstuhl
herauskommen und alles selbst machen konnte. Bisher war das aber immer nur
unter den wachsamen Blicken seines Freundes und Helfers Dylan passiert. Allein
hatte er es noch nie gemacht.
Aber er schaffte es. Alles. Er ignorierte die mörderischen Schmerzen
und zog sich an. Einhändig zog er die Hose Zentimeter für Zentimeter über den
schweren Gips und über die Hüfte.
Und dann scheiterte er an einer Banalität.
Wenn er nicht so verdammt wütend gewesen wäre, hätte er eigentlich
darüber gelacht. Nachdem er unter größten Anstrengungen so weit gekommen war,
sollte eine solche Kleinigkeit tatsächlich die Hürde sein, an der er
scheiterte? Ein Manschettenknopf? Ein Manschettenknopf zwang ihn in die Knie?
Seine schwache rechte Hand konnte nicht einmal einen einfachen Knopf durch ein
Knopfloch stecken. Wer hätte das gedacht, dass ein so simples Unterfangen eine
solch komplexe Koordination von Fingern und Daumen erforderte.
Er würde sie doch bitten müssen, ihm zu helfen.
Er öffnete den Mund, um sie zu rufen, aber ihr Name kam ihm nicht
über die Lippen. Zum ersten Mal seit dem Unfall spürte er, wie ihm die Tränen
kamen
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