Das rote Band
sich und rekelte sich wohlig. Plötzlich hörte er Hufgeklapper und Männerstimmen.
„Seht euch das an!“, rief Harper. „Da liegt unser Fechtmeister und schläft!“
„Und das am hellen Tag!“, erwiderte Raine in gespielter Empörung.
Will lachte. „Sollen wir ihn wecken oder beobachten wir ihn noch eine Weile?“
Ian öffnete die Augen und blickte in die amüsierten Gesichter all seiner Studenten. „Bei eurem Geschrei wachen selbst Tote wieder auf“, murrte er, doch seinen Mund umspielte ein Lächeln. „Wer hat euch verraten, dass ich hier bin?“
„Lord Lionsbridge“, antwortete Victorian. „Er dachte wohl, du könntest etwas Unterhaltung vertragen.“
„Aha, Galad quält sein schlechtes Gewissen, weil er mich in die Verbannung geschickt hat“, erwiderte Ian und setzte sich auf.
„Sag nichts Schlechtes über den Lord“, entgegnete Raine. „Er macht dem neuen Fechtmeister das Leben verdammt schwer. Und das Beste ist, der Earl kann nichts dagegen unternehmen.“
„Außerdem“, erklärte Harper, „haben wir eine junge Dame dabei, die sich vor Sehnsucht nach dir verzehrt.“ Er lenkte sein Pferd zur Seite und gab den Blick auf Eloïse frei, die sofort aus dem Sattel sprang und auf Ian zulief.
Während die jungen Männer die Pferde auf eine nahe gelegene Koppel zum Grasen brachten, ließ sich Eloïse neben Ian auf die Bank fallen und stupste ihn mit der Schulter an. „Ich weiß“, sagte sie leise, „du hast nach dieser Ankündigung mit jemand anderem gerechnet. Aber“, sie zog ein Papier aus ihrer Tasche, „ich habe sie dir mitgebracht.“
Neugierig rollte Ian das Blatt auf, und Joanna lächelte ihm entgegen.
„Ich finde, das Porträt ist mir sogar besser gelungen als das, was Onora zerstört hat“, erklärte Eloïse stolz.
„Es ist wunderschön. Danke, Eloïse.“ Er legte einen Arm um die junge Frau und drückte sie an sich. „Was macht Joanna?“
„Sie vermisst dich furchtbar! Aber Lord Lionsbridge sagt, Joanna darf dich – genau wie er selbst – nicht besuchen, weil sonst Lord Greystone schnell herausfinden würde, dass du noch in der Nähe bist. Heute Nachmittag spielt Joanna Lord Redcliff und ihrem Bruder auf der Laute vor.“
„Wie bitte?“, rief Ian. „Joanna hasst Laute spielen mindestens genauso, wie du tanzen.“ Am Tag der Abreise von Lady Tamara im letzten Herbst hatte Joanna ihr Instrument in die hinterste Ecke ihres Schrankes verbannt und seitdem nie mehr angefasst. „Außerdem hat sie seit über einem Jahr nicht mehr geübt. Das wird ein grausames Geklimper werden.“
„Aber das weiß doch Lord Redcliff nicht!“ Eloïse kicherte. „Er hat begeistert zugesagt.“
Ian verdrehte die Augen. „Hört Lord Lionsbridge auch zu?“
„Nein. Joanna sagte mir, er habe sich unter dem Vorwand von Kopfschmerzen entschuldigt. Er befürchtet sonst bleibende Schäden für sein Gehör.“
Ian lachte. „Ihr seid unmöglich! Trotzdem vermisse ich Greystone jeden Tag mehr.“
„Und wir vermissen dein Training, Ian“, rief Harper, der mit den anderen von der Koppel zurückgekehrt war. „Schluss mit dem Gerede! Wir haben nur einen Nachmittag lang Zeit, um Lord Redcliffs Versäumnisse der letzten eineinhalb Wochen aufzuholen.
21
„Lord Greystone? Lord Redcliff bittet Euch, sofort in die Waffenhalle zu kommen.“
Nicht schon wieder! Jake musste sich beherrschen, vor dem Küchenjungen nicht laut zu fluchen. Er hatte doch erst vor ein paar Tagen ein längeres Gespräch mit Samuel geführt, nachdem sich die Studentinnen über seine anzüglichen Bemerkungen beim Damentraining echauffiert hatten. Und auch Sir Perrin war mit Samuels Unterricht bei den Soldaten nicht zufrieden, von den Beschwerden der Köchin ganz zu schweigen. Und jetzt schien es auch noch Schwierigkeiten bei der Unterweisung der Studenten zu geben. Allmählich dämmerte Jake die Erkenntnis, dass ein guter Freund nicht unbedingt auch ein guter Lehrer sein musste. Aber, als er mit Galad über Samuel hatte sprechen wollen, hatte dieser nur mit den Schultern gezuckt. Und seine Schwester hatte ihn bei diesem Thema nur vorwurfsvoll angeblickt.
Jake rieb sich die Stirn. Weder Joanna noch Galad hatten seine Entscheidung, Samuel zum Fechtmeister zu ernennen, weiter kritisiert. Und was noch merkwürdiger war: Keiner der beiden verlor ein Wort über Ian! Dabei war er nun schon fast drei Wochen aus der Burg verschwunden. Er war sich sicher, dass die zwei etwas im Schilde führten, aber er würde
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