Das rote Band
Kämpfer und ein noch besserer Lehrer.‘ Natürlich war das nur eine Floskel, aber es hatte sich verdammt gut angehört. Vielleicht hatte er sich in Jakes Meinung über ihn doch geirrt, und ihre Differenzen des letzen Jahres fanden nun ein Ende.
Einziger Wermutstropfen blieb der Streit mit seinem Bruder. Ian konnte sich nicht erinnern, wann Ronen und er das letzte Mal derart aneinandergeraten waren. Es musste ewig her sein! Auch während der Feier war die Stimmung zwischen ihnen unterkühlt geblieben. Aber gestern waren sie beide sehr angespannt gewesen und hatten wohl einfach überreagiert. Ein klärendes Wort würde die Sache bereinigen, dessen war er sich sicher. Ronen war ihm immer zugetan gewesen – warum hätte sich im vergangenen Jahr daran etwas ändern sollen? Sein Bruder wollte bestimmt ebenfalls die alte Einigkeit zwischen ihnen so schnell wie möglich wiederherstellen.
Ian beschleunigte seine Schritte. Er hatte Hunger und freute sich darauf, das Frühstück zusammen mit seinem Bruder einzunehmen. Und die Aussicht, dass heute auch noch seine Schwester Charlotte anreisen würde, die gestern auf einer Hochzeit eingeladen gewesen war, versetzte ihn in Hochstimmung. Die albtraumhafte Ungewissheit über seine Zukunft, die ihn in den letzten Monaten wie gelähmt hatte, war vorbei, und ein herrliches Leben lag vor ihm!
Obwohl es noch früh war, war der Speisesaal bereits gut gefüllt. Ronen war noch nicht anwesend, und Ian hielt nach einem Tisch Ausschau, an dem Platz für sie beide war. Gleich am Eingang entdeckte er schließlich einen, an dem nur ein älteres Ehepaar saß. Er grüßte freundlich und wollte sich ihnen gegenüber auf der Bank niederlassen, doch die beiden starrten ihn feindselig an.
„Hier ist besetzt!“, knurrte der Mann.
Verwundert sah Ian ihn an und begriff. Die Gegenwart eines Ehrlosen war nicht erwünscht. Er nickte stumm und drehte sich weg. Wo konnte er sich hinsetzen? Auf eine erneute Abfuhr verspürte er keine sonderliche Lust. Am Herrschaftstisch, der quer zu den anderen an der Stirnseite der Halle stand, erblickte er Galad, Jake und Bennett, doch dort durfte er nicht Platz nehmen. Zwar war er nun Lehrer der Akademie und hatte somit ein Recht darauf, an der Tafel zu sitzen, doch Jake hatte ihn gebeten, in der Anwesenheit von Gästen darauf zu verzichten. Ian spürte, wie seine gute Laune zu bröckeln begann.
„Ian, komm zu uns!“ Laurentin winkte ihm zu.
Erleichtert ging Ian zu ihm und ließ sich neben seinen Freund und dessen Familie auf die Bank fallen. Der Earl of Crosslands reichte ihm den Brotkorb, und er griff dankbar zu. Von einem unangenehmen Erlebnis sollte er sich nicht den ganzen Tag verderben lassen! Er legte ein Stück Käse auf sein Brot, hörte mit halbem Ohr den Erzählungen von Laurentins Mutter zu und sah sich in der Halle nach Joanna um, als er auf einmal eine schrille Stimme hinter sich vernahm.
„Schau dir das an, Claudine!“, rief Lady Violett. „Lady Joanna ist tatsächlich dreist genug, zusammen mit diesem Ehrlosen beim Frühstück zu erscheinen.“
„Violett, deine Augen werden auch immer schlechter!“, schimpfte ihre Freundin. „Das ist nicht er , das ist Ronen of Darkwood, der Lady Joanna hereinführt.“
„Auch nicht viel besser.“ Lady Violett machte eine abfällige Handbewegung. „Nur der Sohn eines unbedeutenden Barons.“
„Da bist du nicht auf dem neuesten Stand“, erwiderte ihre Freundin hochnäsig. „Viele prophezeien Ronen of Darkwood eine glanzvolle Zukunft. Es heißt, der junge Mann habe ein enormes landwirtschaftliches Geschick, ein Händchen für lukrative Geschäfte und mittlerweile Verbindungen zu fast allen höheren Häusern. Sobald der Krieg beendet ist, ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis er eine Einladung an den königlichen Hof erhält. Und was das bedeutet, weiß man ja.“ Sie beschrieb mit dem Finger eine Spirale nach oben.
„Hoffentlich steht ihm bei seinem gesellschaftlichen Aufstieg nicht sein geächteter Bruder im Weg“, entgegnete Lady Violett spitz.
„Genau genommen ist er überhaupt nicht mehr sein Bruder. Sein Vater hat ihn ja aus der Familie ausgeschlossen.“
„Trotzdem!“, beharrte Lady Violett. „Die Leute werden den Namen Ronen of Darkwood immer mit dem ehrlosen Fechtmeister von Greystone in Verbindung bringen.“
Auf Lady Claudines Gesicht erschien ein wissendes Lächeln. „Böse Zungen behaupten, der Earl of Greystone werde nicht sehr lange an diesem Ian festhalten. Und
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