Das rote Band
zwar aus einem ganz bestimmten Grund.“ Sie legte eine bedeutungsvolle Pause ein, bevor sie fortfuhr: „Man munkelt es zwar nur hinter vorgehaltener Hand, aber weißt du, wessen Sohn im nächsten Ausbildungsjahr die Akademie besuchen wird?“ Lady Claudine beugte sich zu ihrer Freundin hinüber und flüsterte ihr einen Namen ins Ohr.
„Ach, du meine Güte!“ Lady Violetts Augen wurden groß. „Bist du dir da sicher?“
Statt einer Antwort sah Lady Claudine sie verschwörerisch an. „Glaub mir, Violett, dieser Ehrlose wird schneller aus Greystone verschwunden sein, als er gekommen ist. Und niemand wird ihm eine Träne hinterherweinen: weder wir noch der Earl und erst recht nicht Ronen of Darkwood!“
„Oh, diese beiden alten Nattern!“ Laurentin schnitt eine Grimasse. „Hör nicht auf ihr dummes Geschwätz, Ian.“
Doch Ian hatte dem Gespräch der beiden Frauen wenig Beachtung geschenkt. Sein Blick war auf Joanna gerichtet, die am Arm seines Bruders durch die große Halle schritt. Ihr hellbraunes Haar war zu einem schlichten Knoten aufgesteckt, und sie trug ein dunkelblaues Kleid, das hervorragend zu ihren braunen Augen passte. Die Strapazen und Verunsicherungen des vergangenen Tages waren ihr kaum noch anzusehen, und sie strahlte ihre altbekannte Selbstsicherheit und Ruhe wieder aus. Bei ihrem Anblick durchlief Ian ein warmer Schauder, und er musste an sich halten, nicht zu ihr zu laufen und sie vor allen Leuten zu küssen. Stattdessen hoffte er, die beiden würden ihn entdecken, denn ein Winken oder Zurufen seinerseits würde zu viel Aufsehen erregen.
Tatsächlich blieben sie in der Mitte des Saales stehen, und Joanna richtete eine Frage an Ronen. Die Antwort seines Bruders schien sehr witzig zu sein, denn Joanna begann zu lachen. Ronen sah sich in der Halle um, und ihre Blicke trafen sich. Ian lächelte ihm zu, doch Ronen reagierte nicht. Er wandte sich wieder an Joanna und zeigte zu einem Tisch in der Nähe des großen Kamins, an dem Alexander und Philipp mit ihren Familien saßen. Joanna nickte und schob ihre Hand in Ronens angewinkelten Arm. Mit der größten Selbstverständlichkeit legte sein Bruder seine freie Hand auf ihre Finger und führte sie zu Tisch.
Schnell senkte Ian seinen Kopf, damit niemand sein Gesicht sah. Es war schwer zu sagen, welches Gefühl in diesem Moment stärker war: seine Enttäuschung oder seine Eifersucht. Vor einer knappen Stunde noch hatte er mit Joanna das Bett geteilt, und jetzt befand sie es nicht einmal für nötig, nach ihm Ausschau zu halten! Und Ronen? War er seinem Bruder so peinlich, dass er sich nicht zu ihm setzen wollte? Er schielte zu dem Tisch am Kamin, von dem lautes Gelächter erklang. Joanna und Ronen schienen viel Spaß miteinander zu haben und ihn nicht im Geringsten zu vermissen. Ian ballte die Fäuste. Er war kurz davor aufzuspringen und Joanna von seinem Bruder wegzuziehen …
„Du bleibst schön sitzen!“, hörte er plötzlich Laurentins Stimme neben sich. „Sie können nicht zu dir kommen. Das wäre zu auffällig.“
Ian sah ihn erstaunt an. „Seit wann kannst du Gedanken lesen?“
Sein Freund lächelte. „Ich kenne dich doch! Und bei den Blicken, die du Lady Joanna eben zugeworfen hast, sieht sogar ein Blinder, dass du sie liebst. Sie war wenigstens schlau genug, nicht herzuschauen, denn ihre Augen sind ebenso verräterisch wie deine.“ Er stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. „Gedulde dich, der König kommt bald aus dem Krieg zurück und adelt dich, und dann trennt euch nichts mehr. Und jetzt iss deinen Teller leer.“
Ian seufzte. „Wer passt eigentlich auf mich auf, wenn du nicht mehr da bist?“
„Das ist eine gute Frage“, antwortete Laurentin stirnrunzelnd.
Nach Beendigung des Frühstücks brachen alle Familien zur Heimreise auf. Da das Wetter weiterhin schön war, machten sich Jake, Joanna und Galad bereit, die Gäste auf dem Vorplatz zu verabschieden. Ian stand auf und stellte sich zu ihnen, um mit ihnen gemeinsam nach draußen zu gehen, doch Jake schüttelte den Kopf.
„Nein, Ian, du kommst nicht mit uns. Wir müssen nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen. Verabschiede dich hier drinnen von deinen Freunden.“
Ian starrte Jake an. Das war nun schon die dritte Zurückweisung an diesem Morgen, die er zähneknirschend hinnehmen musste! Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und spürte plötzlich Bennetts Hand auf seiner Schulter.
„Wenn du den jungen Männern Lebewohl gesagt hast“, erklärte
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