Das rote Band
am nächsten kommt. Aber vielleicht reizt Euch diese Vorstellung auch?“ In falscher Freundlichkeit legte Amira ihr die Hand auf den Arm. „Aber macht Euch keine Vorwürfe, Eloïse. Ich habe auch länger gebraucht, bis ich es wusste.“ Sie neigte den Kopf und lief an ihr vorbei zum Burgportal.
Keuchend lehnte sich Eloïse an die kalte Mauer. Sie brauchte Halt, so hart traf sie die Erkenntnis aus Amiras Worten. Auf einmal ergab alles einen Sinn: Die Gerüchte um den Earl of Greystone und seine Neigungen. Manon, die nichts von anderen Frauen in Walraven wusste. Victorians große Enttäuschung, als er entdeckt hatte, dass sie kein Mann war. Seine Abneigung gegen vollbusige Damen. Seine Begeisterung für ihren schlanken, knabenhaften Körper.
Ein Gefühl des Ekels stieg in Eloïse auf, und sie rieb sich mit den Händen über ihr Gesicht. Victorian liebte Männer! Nur deshalb war er mit ihr befreundet und schließlich auch im Bett gewesen, weil sie ihn an einen Mann erinnerte! Schwerfällig stieg sie die Treppe hinauf. Sie wusste nicht, ob sie ihm das jemals verzeihen konnte, dass er dieses falsche Spiel mit ihr getrieben hatte. Denn um ihre Person war es ihm nie gegangen, sondern nur um ihr Äußeres! Am Treppenabsatz angekommen, blieb Eloïse müde stehen. Amira war, im Gegensatz zu ihr, klug genug gewesen, Victorians Geheimnis herauszufinden. Und es war das einzig Nette, was Amira jemals getan hatte, es ihr zu verraten, bevor sie ging. Langsam setzte Eloïse einen Fuß vor den anderen. Wie Victorian es wohl aufnehmen würde, dass seine Verlobte ihn verlassen hatte? Er war bestimmt nicht erfreut darüber. Eloïse schüttelte den Kopf. Es war nicht ihre Aufgabe, ihm das beizubringen. Er hatte sie heute zum zweiten Mal aus seinem Leben verbannt, und sie würde jetzt sicher nicht zu ihm laufen, um ihn über den Verlust seiner einstigen Braut hinwegzutrösten. Als sie an seine Vorwürfe dachte, stieg erneut Wut in ihr auf. Mit Victorian hatte sie wirklich lange genug ihre Zeit verschwendet! Entschlossen straffte Eloïse die Schultern und eilte in Richtung des Festsaals. Sie musste sich dringend ablenken, außerdem wollte sie wissen, ob es nach dem Besuch des Königs wenigstens bei Ian und Joanna Grund zur Freude gab.
Am Abend kniete Ian vor dem Kamin in Joannas Zimmer und legte zwei Holzscheite nach, sodass die fast erloschenen Flammen erneut emporzüngelten.
Bereits mit ihrem Nachthemd bekleidet, setzte sich Joanna neben ihn. „Nanu, warum entfachst du das Feuer noch mal?“, wollte sie wissen.
Wortlos zog er das zerschnittene rote Lederband aus der Tasche seines Wamses und reichte ihr den einen Teil der durchtrennten Schnur. Er lächelte ihr zu und hielt sein Stück über die Flammen. Joanna tat es ihm nach, dann öffneten sie beide gleichzeitig ihre Hände. Ian legte seinen Arm um Joanna, und schweigend sahen sie zu, wie das Feuer das Band der Schande vernichtete.
29
„Amira hat die Verlobung gelöst? Mit dem Einverständnis Theodorics?“ Fassungslos starrte Victorian den Earl of Greystone an, der ihn am frühen Morgen in seinem Zimmer aufgesucht hatte. „Wie … wie ist das möglich?“
Jake hob die Hände. „Wir wissen nicht, welche Erklärung sie dem König gegeben hat, Victorian.“ Von den Gerüchten, die sofort nach der Bekanntgabe aufgetaucht waren, brauchte Victorian in diesem ersten Schockmoment nichts zu erfahren. Er stellte einen Becher und einen Krug mit Wein auf den Tisch, die er vorsorglich mitgebracht hatte. „Wenn es Euer Magen erlaubt, würde ich vorschlagen, Ihr nehmt einen kräftigen Schluck.“
Victorian nickte wie betäubt, Jake goss ihm Wein ein und reichte ihm das Gefäß. „Amira reist mit dem König an dessen Hof.“ Er räusperte sich. „Ihr werdet sicher bald eine ebenso bezaubernde Braut für Euch finden, dessen bin ich mir gewiss.“ Selbst wenn die Gerüchte stimmen sollten, gäbe es bestimmt Dutzende von Frauen, die für die Aussicht, Duchess of Walraven zu werden, großzügig darüber hinwegsehen würden. „Ich verlasse Euch nun, Victorian. Schont Euch heute noch, damit Ihr morgen wieder am Unterricht teilnehmen könnt, schließlich beginnen nächste Woche die Abschlussprüfungen.“
Jake wartete auf eine Antwort, doch Victorian sah stumm geradeaus. So nickte er ihm zu und verließ den Raum.
„Wie hat Victorian die Nachricht aufgenommen, Jake?“, erkundigte sich Ian beim Frühstück, das er zu seiner grenzenlosen Genugtuung am Herrschaftstisch
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