Das rote Band
irgendwas nicht mitbekommen?“, wunderte sie sich.
„Da du keine Frau bist, nein.“ Harper lachte. „Sie stehen dort wegen Victorian. Jede von ihnen möchte seine Tanzpartnerin sein.“
„Oh.“ Eloïse hatte schon gemerkt, dass viele der Studentinnen für Victorian schwärmten und ihm verliebte Blicke zuwarfen.
„Na ja, man kann es ihnen nicht verübeln“, fuhr Harper fort. „Unter normalen Umständen hätten sie sicher nicht die Möglichkeit, jemals in ihrem Leben mit dem Sohn eines Dukes zu tanzen.“
„Dann hat Victorian die Qual der Wahl“, erwiderte Eloïse und stellte fest, dass sie sich darüber ärgerte.
Harper zuckte mit den Schultern. „Ich vermute, er wird sich einfach die ranghöchste Dame aussuchen, um allen Spekulationen über eine mögliche Favoritin aus dem Weg zu gehen.“
Maître des Seyn, ein zierlicher älterer Herr mit grauen Locken und schwarzem Schnurrbart, hatte inzwischen den Saal aufgeschlossen, und es zeigte sich, dass Harper mit seiner Voraussage recht behielt: Victorian wählte Maralda, die Tochter des Earls of Cheswich, als Partnerin. Während Maralda ihr Glück kaum fassen konnte, empfingen die anderen jungen Frauen ihre jeweiligen Tanzpartner weit weniger enthusiastisch. Besonders Zelda verzog das Gesicht, denn sie musste mit Eloïse tanzen, und Eloïse konnte es der jungen Frau nicht verübeln. Obwohl sie sich sehr konzentrierte, stand sie mehrmals auf Zeldas Zehen.
Ab und zu schielte Eloïse zu Victorian und Maralda hinüber. Elegant bewegte er sich mit der jungen Frau zu den Takten der Musik über die Tanzfläche. Gelegentlich fragte er Maralda etwas, und die Wangen der Studentin glühten jedes Mal vor Freude.
Harper, der mit seiner Tanzpartnerin neben Eloïse stand, war ihrem Blick gefolgt. „Maralda ist ein hübsches Ding. Würdest gerne mit Victorian die Plätze tauschen, was?“
Nein, sie würde gerne mit Maralda den Platz tauschen, musste Eloïse sich überrascht eingestehen. So sehr sie das Tanzen verabscheute, für Victorian würde sie eine Ausnahme machen. Zu gerne würde sie wissen, wie es sich anfühlte, in seinen Armen zu liegen. Aber das konnte sie kaum sagen, wenn es nicht zu entscheidenden Missverständnissen kommen sollte! Und selbst wenn Victorian wüsste, dass sie eine Frau war, würde er niemals mit ihr tanzen. Dafür hatte sie dem Sohn des Dukes zu wenig zu bieten. Eloïse seufzte und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Zelda zu. „Gefällt es dir in Greystone?“, erkundigte sie sich bei der jungen Frau.
„Ja, und es würde mir noch besser gefallen, wenn du dir das nächste Mal eine andere Tanzpartnerin aussuchen würdest!“, antwortete Zelda patzig.
Eloïse beschloss, den Rest der Tanzstunde schweigend zu verbringen.
„Guten Abend, Korin, was macht Ihr denn hier?“ Lady Joanna sah sie fragend an, als Eloïse nach dem Abendessen die Waffenhalle betrat.
„Ich suche Ian. Ich bin zum freien Training gekommen, Mylady.“
„Heute findet es nicht statt, der Fechtmeister und ich üben gleich mit den Studentinnen“, erklärte die Burgherrin.
Eloïse schlug sich mit der Hand an die Stirn. Heute war Donnerstag, das Kampftraining für die Damen hatte sie vollkommen vergessen! „Dürfte ich zuschauen?“, fragte sie. Vielleicht konnte sie etwas Hilfreiches lernen.
Doch Lady Joanna schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, die Anwesenheit von Herren ist während der Trainingsstunde verboten.“ Die Burgherrin bemerkte ihren enttäuschten Gesichtsausdruck. „Ian und ich üben jetzt zusammen, Ihr könnt solange zusehen, bis die Studentinnen kommen.“
Eloïse ließ sich auf der Tribüne nieder, und Ian, der gerade mit zwei Schwertern aus der Waffenkammer trat, nickte ihr freundlich zu. Gebannt verfolgte Eloïse das beginnende Training. Das wäre vom Schwierigkeitsgrad genau das Richtige für sie! „Natürlich“, murmelte sie ironisch, „ich bin eine Frau.“ Manchmal war sie wirklich nah daran, es zu vergessen.
Ian stand neben Lady Joanna und führte ihre Arme. Er lachte und scherzte mit ihr, und Eloïse fiel auf, dass sie ihn noch nie so glücklich und gelöst gesehen hatte. Die Gegenwart der Burgherrin beflügelte ihn regelrecht. Wahrscheinlich ist er in sie verliebt, überlegte sie grinsend. Es war ihm auch nicht zu verdenken: Lady Joanna war eine begehrenswerte Dame. Ob auch sie Gefühle für Ian hegte? Wohl kaum, ein ehrloser Fechtmeister war keine standesgemäße Partie für die Schwester eines Earls. Trotzdem beobachtete
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