Das rote Band
Erfahrungen des letzten Jahres, dass es noch einige Wochen dauern würde, bis dieses Verhalten sich legen würde.
Ian schritt über die Kampffläche zum Umkleideraum und genoss dabei die Stille. Die Fackeln an den Mauern tauchten die Halle in ein warmes Licht und ließen Schatten an den Wänden tanzen. Er warf einen kurzen Blick in den kleinen Raum und ging dann weiter zur Waffenkammer. Dieser abendliche Rundgang in der Halle war zu einem Ritual geworden, ein kurzes Alleinsein, bevor er Joanna aufsuchte. Er öffnete die Tür zur Waffenkammer und trat ein. Hier brannte keine Fackel, nur das Licht aus der Halle erhellte den kleinen Raum. Während er zu den Haken an der Wand ging, zog er die gefütterte Tunika über den Kopf, die er als Schutz vor Verletzungen getragen hatte. Er wollte gerade sein Hemd überziehen, als er ein Geräusch vernahm. „Ist jemand hier?“, rief er in das Halbdunkel, legte das Hemd beiseite und nahm sich sein Schwert, das an der Wand lehnte.
Ein Scheppern erklang aus der gegenüberliegenden Ecke, und Ian riss die Waffe hoch. Er war nicht alleine in dieser Kammer, das spürte er. Jemand versteckte sich hinter den Fässern mit den Piken. Aber wer und warum? Er war den ganzen Abend in der Halle gewesen, der Eindringling musste sich bereits während des Tages hineingeschlichen haben. Mit erhobenem Schwert näherte Ian sich den Fässern. Sein Körper war angespannt und zum Kampf bereit, ein Tribut an die Zeit im Tagelöhnerhaus. Es raschelte hinter ihm, und Ian fuhr herum und holte zum Schlag aus. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, den Hieb abzufangen, bevor seine Klinge Onora traf.
„Ich kenne niemand, der geschickter im Umgang mit seinem Schwert ist als du, Ian.“ Sie lächelte ihn an.
Ian ließ die Waffe sinken. „Verdammt, Onora, was macht Ihr hier?“, fragte er in einer Mischung aus Erleichterung und Verärgerung.
Die junge Frau trat näher an ihn heran und legte eine Hand auf seine nackte Brust. „Ich habe noch ein paar Fragen zu den Übungen von heute Abend.“ Sie fuhr mit ihren Fingern zu seinem Bauch hinunter. „Zeige sie mir noch mal, ich hätte die ganze Nacht Zeit“, forderte sie ihn mit verführerischer Stimme auf.
Ian packte die Studentin an den Oberarmen und schob sie von sich weg. „Denkt an Euren Ruf, Onora!“
Trotzig hob sie das Kinn. „Ich bin eine erbberechtigte Tochter. Ich kann haben, wen ich will!“
„Aber nicht mich! Ich bin nicht der Richtige für Euch“, erklärte Ian so ruhig wie möglich.
„Wegen deiner Ehrlosigkeit? Wenn das der Grund ist, ich kann warten.“ Erneut streckte sie ihre Hand nach ihm aus.
Ian trat einen Schritt zurück, sodass sie ihn nicht berühren konnte. „Nein. Ich empfinde nichts für Euch, Onora.“
„Weil du mich nicht gut genug kennst!“, rief sie. „Würdest du einige Zeit mit mir verbringen, würdest du sehen, dass wir beide hervorragend zueinanderpassen.“
„Nein!“, wiederholte er, griff sein Hemd und ging an ihr vorbei in die Waffenhalle zurück.
Mit aufeinandergepressten Lippen folgte Onora ihm ins Helle.
„Und jetzt geht Ihr sofort zur Burg zurück“, bestimmte er.
Wütend funkelte sie ihn an. „Für gewöhnlich bekomme ich, was ich will, Ian.“ Sie verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. „Oder ist es eine andere Frau?“, fragte sie lauernd.
„Geht, Onora!“
Sie warf ihm einen letzten zornigen Blick zu und stürmte aus der Waffenhalle.
Ian zog sein Hemd an und wartete noch eine Weile, bevor er ebenfalls die Waffenhalle verließ. Auf keinen Fall wollte er heute Abend nochmals Onora begegnen!
Als Ian einige Zeit später die Burg betrat, herrschte in den Gängen Stille, und so entschied er, gleich zu Joanna zu gehen. Leise öffnete er ihre Zimmertür und schlüpfte in den Raum.
Joanna lag bereits im Bett und sah ihn fragend an. „Du bist spät.“
„Onora hatte sich in der Waffenkammer versteckt und wollte mich verführen“, erklärte er seufzend. „Ich habe sie abgewiesen, und sie hat beleidigt die Halle verlassen.“
Joanna stöhnte. „Wundervoll, eine gekränkte Verehrerin“, erwiderte sie ironisch. „Genau das, was wir brauchen.“
„Was hätte ich sonst machen sollen?“, fragte Ian. „Sie küssen?“ Er schnallte seinen Waffengürtel ab und warf ihn auf den Sessel vor dem Kamin. „Onora äußerte sogar den Verdacht, ich lehne sie wegen einer anderen Frau ab.“
„Stimmt ja auch“, entgegnete Joanna.
„Aber wie kommt Onora darauf?“, wunderte er sich.
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