Das rote Band
dass aus der Verbandstruhe in der Waffenhalle ständig Bandagen verschwinden würden. Das sind nicht zufällig die Binden, die sie vermisst?“
„Denkbar“, murmelte Eloïse.
Ian seufzte. „Erklärst du es mir bitte?“
Verlegen sah sie ihn an. „Ich übe regelmäßig alleine mit dem Schwert hier im Zimmer. Sehr oft schneide ich mich dabei und dann brauche ich die Bandagen.“
„Du verlierst so viel Blut, dass du eine solche Unmenge Verbände benötigst?“, fragte Ian ungläubig. Da stimmte doch etwas nicht! „Würdest du mir bitte eine dieser vielen, tiefen Wunden zeigen?“
„Nein“, erwiderte Eloïse erschrocken.
Ian erinnerte sich an das Geschehen am See, als er das Hemd öffnen und nach der Verletzung hatte sehen wollen. „Dürfte Lady Joanna sich die Verletzung ansehen?“
„Nein!“
Ian rollte verzweifelt mit den Augen und legte die Verbände auf den Stuhl. An die Geschichte mit den Verletzungen glaubte er nicht. Korin verbarg etwas vor ihm, doch der junge Mann würde sich ihm eher anvertrauen, wenn er ihn nicht drängte. „Aber versprich mir, uns Bescheid zu sagen, bevor du verblutest, ja?“, sagte er ironisch.
Eloïse nickte stumm und senkte den Blick.
„Wann kann ich wieder mit dir im Unterricht rechnen?“, erkundigte sich Ian.
„Morgen früh“, antwortete sie.
„Schön. Und bring die Bandagen schnellstmöglich in die Waffenhalle zurück, bevor Lady Joanna die ganze Burg auf den Kopf stellt.“
Einige Abende später klopfte Eloïse an Victorians Tür, denn sie hatten sich verabredet, eine schriftliche Aufgabe für Agrarkunde gemeinsam anzufertigen. Da er ihr nicht aufmachte, hob sie erneut die Hand, um anzuklopfen. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Victorian stand vor ihr, nur mit einer Hose bekleidet! Eloïse blieb der Mund offen stehen. Es war das erste Mal, dass sie ihn mit nacktem Oberkörper sah. Fassungslos starrte sie auf seine muskulösen Arme und seine breiten Schultern und musste sich zwingen, nicht züchtig die Augen niederzuschlagen.
„Ich wollte den Schreibtisch frei räumen und habe dabei das Tintenfass umgeworfen“, erklärte Victorian. „Die Tinte ist über den Ärmel geflossen.“
Erst jetzt bemerkte Eloïse das Hemd in Victorians Hand.
„Ich habe es ausgezogen, um es in der Waschschüssel auszuwaschen“, fuhr er fort.
„Nein!“ Dieses banale Problem löste Eloïse aus ihrer Erstarrung. „Wasser bringt nichts. Tinte lässt sich nur mit Salz entfernen. Ich hole dir welches aus der Küche.“ Schnell drehte sie sich um, damit sie nicht länger dem Anblick von Victorians freiem Oberkörper ausgesetzt war. Hoffentlich zog er sich ein neues Hemd an, während sie das Salz besorgte, sonst würde sie an diesem Abend zu keinem klaren Gedanken mehr fähig sein! Eloïse wollte gerade loslaufen, als Raine aus seinem Zimmer trat, das eine Tür weiter lag.
„Oh, bist du nun der Diener Seiner Gnaden ?“, fragte Raine spöttisch, der ihr Gespräch mit angehört haben musste, und stellte sich ihr in den Weg.
„Keineswegs“, antwortete Eloïse, „aber, wenn wir den Fleck nicht schnell entfernen, bleibt er im Stoff haften, und das Hemd ist verdorben.“
Er zuckte mit den Schultern. „Soll ich dir etwas verraten? Victorian besitzt hundert andere Hemden.“
„Aber nicht in Greystone!“ Sie ließ Raine stehen und eilte weiter zur Küche.
Als Eloïse in Victorians Zimmer zurückkehrte, stellte sie fest, dass ihr Wunsch sich nicht erfüllt hatte: Er war immer noch halb nackt! Sie versuchte, nicht hinzusehen, nahm ihm das fleckige Hemd aus der Hand und ging schnurstracks zur Waschschüssel. Sie streute das Salz auf die Tintenflecke und rieb es gründlich ein.
Neugierig kam Victorian näher und stelle sich neben sie. Eloïse spürte seine warme Haut an ihrem Oberarm und biss sich auf die Lippen. Mit aller Gewalt konzentrierte sie sich auf den Fleck.
„Gibt es Schwierigkeiten beim Entfernen?“, fragte Victorian. „Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“
Oh ja! „Zieh dir endlich ein frisches Hemd an!“, rief sie.
Victorian räusperte sich. „Natürlich, das habe ich ganz vergessen.“ Er drehte sich um und ging zum Kleiderschrank.
Eloïse atmete erleichtert aus. Sein unbekleideter Anblick hatte in ihr Wünsche ausgelöst, über die sie besser nicht nachdenken wollte.
Als Eloïse am nächsten Morgen die Waffenhalle betrat, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Auf der untersten Stufe der Tribüne standen zwei Körbe, randvoll
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