Das Rote Kornfeld
Großvater väterlicherseits lief mit der Flinte in der Hand zu ihr und schrie sie an: «Hör auf zu heulen! Wie die Dinge nun einmal stehen, ist es egal, ob wir leben oder sterben.» Sie wagte nicht, ein Wort zu sagen, aber Tränen strömten ihr aus den Augen. Er wandte sich um, warf einen Blick auf die Dorfmauer, die noch nicht unter Beschuss stand, griff mit der einen Hand nach Mutter, mit der anderen nach ihrer Mutter und zerrte beide in den Gemüsegarten hinter dem Haus, wo über einem ausgetrockneten Brunnen noch immer die verfallene Winde hing. Er warf einen Blick in den Brunnen und sagte: «Er ist trocken. Hier können wir die Kinder erst einmal verstecken. Wir holen sie wieder heraus, wenn wir die Japaner vertrieben haben.» Großmutter stand da wie ein Stück Holz und fügte sich seinen Wünschen.
Großvater wickelte das lose Seilende von der Winde und band es meiner Mutter um die Taille. In diesem Augenblick zerriss ein durchdringendes Pfeifen den Himmel über ihnen, und heulend brauste ein schwarzer Gegenstand in den Schweinestall des Nachbarn. Man hörte eine ohrenzerreißende Explosion, eine Rauchsäule stieg über dem Stall auf, und die ganze Welt schien sich aufzulösen. Granatsplitter, Mist und Schweinebeine flogen in alle Himmelsrichtungen. Ein Bein fiel mit nach innen gekrümmten weißen Sehnen genau vor Mutters Füße. Das war das erste Mal, dass meine fünfzehnjährige Mutter ein Geschoß einschlagen hörte. Die überlebenden Schweine stürzten panisch quiekend aus dem Hochstall. Mutter und mein kleiner Onkel brachen in hysterisches Weinen aus.
«Das sind Granaten», erklärte Großvater. «Qian’er, du bist fünfzehn Jahre alt und kannst auf dich selbst aufpassen. Du musst da unten im Brunnen für deinen kleinen Bruder sorgen. Ich komme euch holen, wenn die Japaner wieder weg sind.»
Als wieder eine japanische Granate einschlug, begann er, die Winde zu drehen und Mutter in den Brunnen hinabzulassen. Als ihre Füße die zerbrochenen Ziegel und den zerkrümelten Ton auf dem Boden berührten, blickte sie aus der Dunkelheit, die sie umgab, zu dem Lichtstrahl hoch über ihr auf und konnte kaum mehr Großvaters Gesicht erkennen. «Binde das Seil los !» hörte sie ihn rufen. Sie machte es los und sah zu, wie es ruckweise nach oben verschwand. Sie konnte ihre Eltern hören, die sich stritten, das Explodieren japanischer Granaten und schließlich das Weinen ihrer Mutter. Noch einmal erschien Großvaters Gesicht in dem Lichtstrahl. «Achtung, Qian’er», rief er, «jetzt kommt dein Bruder. Fang ihn auf!»
Mutter sah zu, wie mein dreijähriger Onkel, ein Seil um die Taille gebunden, mit Händen und Füßen um sich schlagend und laut heulend, herabgelassen wurde. Das verrottete Seil zitterte in der Luft, die Winde meldete mit einem langen Quietschen ihren Protest an. Großmutter beugte sich über die Brunnenöffnung, bis fast ihr ganzer Oberkörper sichtbar wurde, und stieß unter Seufzern immer wieder den Namen meines kleinen Onkels aus: «Anzi», rief sie, «mein kleiner Anzi !» Mutter konnte die glänzenden Tränen in Großmutters Gesicht erkennen, die wie kristallene Perlen in den Brunnen fielen. Das Seil rollte von der Winde, und die Füße meines kleinen Onkels berührten den Boden. Mit ausgestreckten Armen und nach oben gestreckten Handflächen beschwor er unter Tränen seine Mutter, die noch immer über den Brunnen gelehnt stand: «Mama, zieh mich hoch, ich will nicht runter, ich will rauf, Mama, Mama ...»
Mutter sah, wie Großmutter nach dem Seil griff und es wieder hochziehen wollte. Sie hörte ihr Klagen: «Anzi, mein Herzblatt, mein Sohn ...»
Dann sah Mutter, wie Großvaters kräftige Hand Großmutters Hand zurückriss, obwohl sie sich verzweifelt an das Seil klammerte. Großvater stieß sie beiseite, und Mutter sah sie taumeln. Das Seil spannte sich, und mein kleiner Onkel fiel in die Arme meiner Mutter.
Mutter hörte Großvaters zornige Stimme: «Blödes Weib! Willst du, dass sie hier oben mit uns zusammen sterben? Steig über die Mauer und beeil dich! Hier kommt keiner mit dem Leben davon, wenn die Japaner einmal im Dorf sind.»
«Qian’er ... Anzi ... Qian’er ... Anzi ...» Großmutters Stimme schien weit entfernt. Wieder explodierte eine Granate. Von den Brunnenwänden fiel Erde. Nach der Explosion hörten sie Großmutters Stimme nicht mehr. Über ihnen gab es nur noch einen schwachen Lichtschein und die alte Seilwinde.
Der kleine Onkel weinte immer noch, als Mutter ihn
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