Das Rote Kornfeld
sechsundvierzig Jahre später. Der Ort: die Stelle, wo Großvater, Vater und Mutter einen heldenhaften Kampf gegen eine Hundemeute ausfochten, deren drei Anführer unserer Familie gehörten: der Schwarze, der Rote, der Grünliche. In einer stürmischen Nacht schlug der Blitz in ein Massengrab und legte es offen: ein Grab, in dem Kommunisten, Nationalisten, Zivilisten, Japaner und Marionettensoldaten beerdigt waren. Man nannte es das Grab der Tausend, und das Unwetter verstreute verrottete Knochen über eine Fläche von zehn Quadratmetern, wo der Regen sie rein und weiß wusch. Damals verbrachte ich meine Sommerferien zu Hause, und als ich hörte, das Grab der Tausend habe sich geöffnet, eilte ich hin, um selbst nachzusehen, und unser kleiner Hund mit dem blauschimmernden Fell folgte mir. Es regnete immer noch, und der Hund überholte mich. Seine harten Klauen gruben sich geräuschvoll in die Schlammpfützen. Es dauerte nicht lange, bis wir inmitten der umhergeschleuderten Knochen standen, und der Hund rannte hin, um sie zu beschnüffeln. Dann bekundete er sein Desinteresse, indem er mit dem Kopf wackelte.
Menschen mit ängstlichen Gesichtern standen neben dem offenen Grab. Ich drängte mich dazwischen, bis ich die Skelette im Grab sehen konnte : Haufen von Knochen, die zum ersten Mal seit Jahren dem Licht ausgesetzt waren. Ich glaube, nicht einmal der Provinzsekretär der Partei konnte die Knochen von Kommunisten, japanischen Soldaten, ihren chinesischen Marionetten und Zivilisten voneinander unterscheiden. Die Schädel hatten alle dieselbe Form, und sie alle lagen vom Regen gebadet auf einem Haufen. Die Tropfen plätscherten in trostlosem Rhythmus auf die weißen Knochen, ein starker, aggressiver Taktschlag. Skelette lagen auf dem Rücken und füllten sich mit eisigkaltem Wasser, es erinnerte an Hirsebrand, der seit Jahren gärt.
Die Dorfbewohner sammelten die verstreuten Knochen ein und warfen sie wieder auf den Haufen von Schädeln und Gliedern, der noch im Grab lag. Plötzlich überkam mich ein Schwindel, und als er vorüber war, sah ich noch einmal hin und entdeckte Dutzende von Hundeschädeln zwischen den anderen Schädeln im Grab. Schnell wurde mir klar, dass der Unterschied zwischen den Schädeln von Hunden und Menschen nicht allzu groß ist. Der Boden des Grabes schien verschwommen weiß und vertraute mir die herzbewegende Nachricht an, dass die ruhmreiche Geschichte der Menschheit überreich ist an Hundegeschichten und Hundelegenden, dass die Geschichte des Hundes und die Geschichte des Menschen eng miteinander verknüpft sind. Ich half den anderen beim Einsammeln der verstreuten Knochen, aber sicherheitshalber zog ich ein Paar weiße Handschuhe an. Als ich die hasserfüllten Blicke sah, die die Dorfbewohner mir zuwarfen, zog ich sie schnell wieder aus und steckte sie in die Hosentasche. Dann ging ich auf der knochenübersäten Straße gut hundert Meter weiter bis zum Ende des Hirsefeldes.
Dort, im kurzen grünen Gras, an dem noch immer Wassertropfen hingen, lag eine geschwungene menschliche Schädeldecke. Die flache, breite Stirn wies darauf hin, dass sie keinem gewöhnlichen Menschen gehört hatte. Ich hob sie mit drei Fingern auf und wollte damit zurückgehen, als ich ein kleines Stück weiter noch etwas Weißes schimmern sah. Es war ein langer schmaler Schädel, in dessen offenem Maul sich noch scharfe Zähne befanden. Ich wusste, dass ich diesen Schädel nicht aufzuheben brauchte, denn er gehörte derselben Art an wie mein kleiner Freund mit dem bläulich schimmernden Fell, der mir immer noch folgte. Vielleicht war es ein Wolf gewesen, vielleicht eine Kreuzung von Wolf und Hund. Das einzige, was ich wirklich wusste, war, dass die Explosion den Schädel hierher geschleudert hatte, denn die Erdflecken auf der frisch gewaschenen Oberfläche bewiesen, dass er jahrzehntelang in dem Massengrab gelegen hatte. Ich hob ihn trotzdem auf. Ohne auch nur einen Ansatz von Gefühl zu zeigen, warfen die Dorfbewohner Knochen in das Grab. Manche brachen und zersplitterten beim Aufprall. Ich warf das menschliche Schädelstück hinein, aber bei dem großen Hundeschädel zögerte ich. «Schmeiß ihn rein», sagte ein alter Mann. «Damals waren die Hunde so gut wie Menschen.» Also warf ich ihn in das offene Grab. Als das Grab der Tausend aufgefüllt war, sah es genauso aus wie bevor es sich geöffnet hatte. Um die aufgeschreckten Seelen der Toten zu beruhigen, verbrannte Mutter einen Stapel Geistergeld am
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