Das Rote Kornfeld
Grab.
Nachdem ich geholfen hatte, das Grab wieder aufzufüllen, blieb ich mit Mutter dort stehen, um auf den letzten Ruheplatz von tausend oder mehr Leichen herabzublicken. Voll Ehrfurcht verneigte ich mich dreimal.
«Das war vor sechsundvierzig Jahren», sagte Mutter. «Damals war ich fünfzehn.»
6
Damals war ich fünfzehn. Als die Japaner das Dorf umzingelten, haben mich deine Großeltern zusammen mit deinem kleinen Onkel in einem trockenen Brunnen versteckt. Wir haben sie nie wiedergesehen. Ich habe erst später erfahren, dass man sie am gleichen Vormittag getötet hat.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage ich zusammengekauert in dem Brunnen gesessen habe. Dein Onkel ist dort gestorben, und die Leiche fing an zu stinken. Die Kröte und die Giftschlange mit dem gelben Halsband starrten mich an, und ich bin vor Angst fast gestorben. Ich war sicher, ich würde da unten im Brunnen sterben. Aber schließlich kamen dein Vater und dein Großvater ...
Großvater wickelte die fünfzehn .38 er Gewehre in Ölpapier und band sie mit einem Strick zusammen. Dann trug er sie an den Brunnenrand. «Douguan, schau dich um und Pass auf, dass uns niemand sieht.»
Großvater wusste, dass Zugführer Leng und das Jiao-Gao-Regiment es immer noch auf die Gewehre abgesehen hatten. Als er und die anderen in der Nacht zuvor in einem Zelt unter der Dorfmauer schliefen, hatte der Blinde, der Wache stand, an der Zeltöffnung ein Geräusch gehört. Es war Mitternacht, und er hörte einen dumpfen Stoß gegen den Ligusterstrauch am Abhang. Dann lauschte er gedämpften Schritten, die sich dem Zelt näherten. Er konnte hören, dass es zwei Leute waren: ein tapferer und ein weniger tapferer. Er konnte ihre Atemzüge hören. Er hob das Gewehr und rief: «Halt, stehenbleiben!» Er hörte, wie sich die Männer in panischem Schrecken zu Boden warfen und wegkriechen wollten. Er zielte in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und drückte auf den Abzug. Peng! Er hörte, wie die Männer den Abhang hinabrollten und sich in der Ligusterhecke versteckten. Er zielte und feuerte noch einmal. Irgend jemand schrie auf. Großvater und die anderen, die von den Schüssen aufgewacht waren, stürzten herbei, die Gewehre im Anschlag; sie konnten gerade noch zwei dunkle Figuren erkennen, die über den Graben sprangen und im Hirsefeld verschwanden.
«Es ist niemand da», sagte Vater.
«Merk dir den Brunnen», sagte Großvater.
«Ich kenne ihn. Er gehört Qian’ers Familie.»
«Wenn ich sterbe»», sagte Großvater, «hol dir die Gewehre und kauf dich damit in das Jiao-Gao-Regiment ein. Besser als Zugführer Lengs Leute sind die allemal.»
«Wir sollten uns mit niemandem zusammenschließen», sagte Vater. «Wir sollten eine eigene Armee aufstellen. Wir haben immer noch ein Maschinengewehr.»»
Großvater stieß mit spöttischem Lächeln den Atem durch die Nase und sagte: «Sohn, so einfach ist das nicht. Ich bin erschöpft.»»
Vater rollte das Seil von der klapprigen Winde, und Großvater band es um das Gewehrbündel.
«Ist der Brunnen trocken?»» fragte er.
«Ja. Wang Guang und ich haben hier einmal Verstecken gespielt.»» Vater bückte sich, um in den Brunnen zu gucken. In der dunklen Höhle sah er die Umrisse zweier Gestalten.
«Vater»», schrie er auf, «da unten ist jemand!»»
Sie knieten auf den Brunnenstufen nieder und versuchten zu erkennen, was da unten war.
«Es ist Qian’er», sagte Vater.
«Sieh genau hin. Ist sie noch am Leben?»»
«Ich glaube, ja. Ich kann sehen, wie sie atmet. Neben ihr liegt eine Schlange. Und ihr kleiner Bruder Anzi ist auch da.» Das Echo der Brunnenwände warf Vaters Worte zurück.
«Hast du Angst, da hinunterzusteigen?»
«Ich steige runter. Qian’er ist meine beste Freundin.»
«Gib acht auf die Schlange!»
«Ich habe keine Angst vor Schlangen.»
Großvater machte das Bündel Gewehre vom Brunnenseil los und band den Strick um Vaters Hüfte. Dann ließ er ihn mit der Winde langsam herab.
«Vorsichtig», sagte Großvater oben am Brunnenrand, als Vaters Fuß auf einen vorstehenden Ziegelstein traf. Als Vater unten ankam, hob die schwarze Schlange mit dem gelben Halsband drohend den Kopf, schleuderte ihm die gespaltene Zunge entgegen und begann zu zischen. Beim Fischen und beim Krabbenfang am Schwarzwasserfluß hatte Vater gelernt, mit Schlangen umzugehen, und einmal hatte er gemeinsam mit Onkel Luohan eine in trockenem Kuhmist gebackene Schlange gegessen. Onkel Luohan hatte ihm erzählt,
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