Das Rote Kornfeld
schweifen. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Er hatte jeden Mut verloren. Wie vorübertreibende Wolken schwammen traurige und freudige Erinnerungen vor seinem inneren Auge vorbei: hoher Rang und großer Reichtum, eine reizende Frau und eine schöne Mätresse, ein geliebtes Pferd und ein glänzendes Schwert, ein Leben voll von Vergnügungen und klarem Schnaps. Aber was hatte er jetzt davon, dass er jahrzehntelang gekämpft und Frauen umworben hatte? Alles, was blieb, war die Trostlosigkeit, die sich vor ihm erstreckte. Ein paar Mal zog er die Pistole, aber dann zögerte er und schob sie wieder ins Halfter.
Herbst und Winter des Jahres 1939 waren einer der schwersten Abschnitte in Großvaters Lebensgeschichte : Seine Trupps waren ausgelöscht, seine geliebte Frau war tot, sein Sohn war schwer verwundet, sein Dorf und das Land ringsum waren in Flammen aufgegangen, und seinen Körper hatte schwere Krankheit befallen. Der Krieg hatte fast alles zerstört, was sein eigen war. Seine Blicke schweiften über die wirr umherliegenden Leichen von Menschen und Hunden. Wie ein verknotetes Garnknäuel lagen sie da und verwirrten sich immer mehr, je länger er hinsah, bis sie schließlich vor seinen Augen verschwammen. Mehrmals zog er bei dem Gedanken, sich von dieser verfluchten, sinnlosen Welt zu verabschieden, die Pistole. Aber am Ende siegte die Gier nach Rache über die Feigheit. Er hasste die Japaner, er hasste die Truppen der Jiao-Gao-Einheit, und er hasste die Männer des pockennarbigen Leng.
An eben der Stelle, wo er stand, hatten die Jiao-Gao-Truppen mehr als zwanzig Gewehre gestohlen und waren dann spurlos verschwunden. Nichts sprach dafür, dass sie sich mit den Japanern eingelassen hätten. Allenfalls von einem Zusammenstoß mit den Männern von Pockennarbe Leng hatte er gehört; und Großvater hegte den Verdacht, es seien die Jiao-Gao-Truppen gewesen, die fünfzehn Gewehre aus dem trockenen Brunnen gestohlen hatten, wo Vater und er sie versteckt hatten.
Liu, die trotz ihrer vierzig Jahre immer noch ein hübsches Gesicht hatte, kam auf der Suche nach Großvater zum Sumpfrand und versuchte, ihn durch liebevolle Blicke auf sein silbergraues Haar zu trösten. Sie legte eine große rauhe Hand auf seinen Arm und sagte: «Du solltest nicht hier herumsitzen und grübeln. Gehen wir nach Hause. Die Alten hatten ein Sprichwort: «Der Himmel verschließt nie alle Ausgänge.» Du solltest daran denken, wieder gesund zu werden, und kräftig essen, trinken und atmen.»
Ihre Worte rührten ihn. Er sah ihr ins freundliche Gesicht, und Tränen stiegen ihm in die Augen. «Ach, Schwägerin ...»
Sie streichelte seinen gebeugten Rücken. «Sieh dir das nur an. Ein Mann von kaum Vierzig wird durch Leiden so weit gebracht.»
Auf dem Rückweg stützte sie ihn. Er blickte auf ihr lahmes Bein und fragte besorgt: «Wird es besser mit deinem Bein?»
«Das Geschwür ist abgeheilt, aber das Bein ist dünner geblieben als das andere.»
«Es wird schon noch kräftiger werden.»
«Ich glaube nicht, dass Douguan so schwer verwundet ist, wie es aussieht.»»
«Schwägerin», sagte Großvater, «meinst du, er ist mit nur einem in Ordnung?»»
«Ich glaube schon. Einzehiger Knoblauch ist der schärfste.»
«Meinst du das wirklich?»
«Mein jüngerer Bruder hatte von Geburt an nur einen, und du ahnst nicht, wie viele Kinder er hat.»
«Ach so!» sagte Großvater.
In der Nacht ruhte Großvater sein müdes Haupt am warmen Busen der Liu aus, und sie streichelte seinen knochigen Körper mit ihren großen Händen. «Kannst du noch einmal?» flüsterte sie. «Reicht deine Kraft noch? Nur nicht verzweifeln. Fühlst du dich jetzt nicht besser?»
Großvater roch den süß-sauren Duft ihres Atems und schlief fest ein.
Mutter konnte nicht vergessen, wie Doktor Zhang diese purpurrote abgeflachte Kugel mit der Pinzette aufgehoben hatte. Er hatte sie sorgfältig inspiziert und dann in eine Schale voll schmutziger Wattebäusche und faulender Haut- und Fleischstückchen geworfen. Der Arzt hatte Douguans Hoden in eine Schüssel mit schmutzigem Abfall geworfen. Gestern war er noch sein Juwel gewesen, heute lag er im Abfall. Mutter, die über fünfzehn war und angefangen hatte, ein paar Dinge zu begreifen, fühlte sich peinlich berührt und zugleich beängstigt. Während sie Vater pflegte, starrte sie ständig auf sein in Verbandmull gehülltes Glied. Ihr Herz klopfte, ihre Wangen brannten, sie errötete zutiefst.
Dann erfuhr sie, dass die lahme
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