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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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flackernd das Hauptzelt und warfen ihr unheimliches, kühles Licht auf das, was sich darin befand. Großmutters scharlachfarbene Bahre stand in der Mitte. Die Kerzen verstärkten mit ihrem goldenen Glanz das gedämpfte rötliche Licht und verliehen der Atmosphäre etwas Geheimnisvolles. Um den Sarg standen Schneekiefern und Schneeweiden aus Papier, daneben zwei Figuren : links ein Knabe in Grün, rechts ein Mädchen in Rot. Baoen, der bekannteste Beerdigungskünstler der Stadt, hatte sie aus Hirsestengeln und Buntpapier geschaffen. Er hatte die Gabe, Stöcke und Stroh in lebensechte Begräbnisfiguren zu verwandeln.
    Die Inschrift auf der Seelentafel neben Großmutters Sarg lautete: «Dem Geist meiner hingeschiedenen Mutter aus der Familie Dai. Dargebracht von ihrem pietätvollen Sohn Yu Douguan.» In einem mattbraunen Weihrauchgefäß vor der Tafel qualmten Räucherkerzen. Parfümierter Rauch stieg in die Luft, Asche schwebte über den Scharlachflammen der Kerzen. Auch Vater hatte sich rasiert, um zu zeigen, dass er Mitglied der Eisengesellschaft war. Mit halbmondförmig rasierter Stirn saß Großvater hinter einem Tisch neben Schwarzauge, dem Anführer der Gesellschaft, und sah dem Zeremonienmeister des Bezirks Jiao zu, der Vater die vorgeschriebenen drei Kniefälle, sechs Verneigungen und neun Fußfälle beibrachte. Der Zeremonienmeister war ein etwa sechzigjähriger Mann mit langem, schütterem weißem Bart, perlweißen Zähnen und flinker Zunge, der sein Metier offensichtlich beherrschte. Vater sprach zwar die rituellen Formeln geduldig nach, wurde aber immer unruhiger und nervöser, vollführte nur noch die äußerlichen Gesten und suchte, wo immer möglich, nach Abkürzungen.
    «Douguan», sagte Großvater streng, «hör mit dem Unsinn auf! Erfülle deine Sohnespflichten, auch wenn sie dir unangenehm sind!»
    Also gab sich Vater Mühe, bis er sah, dass sich Großvater mit Schwarzauge unterhielt. Da ließ seine Konzentration wieder nach. Ein Mann betrat das Zelt und verlangte vom Zeremonienmeister Geld für irgendwelche Dienstleistungen. Großvater erlaubte dem Zeremonienmeister, mit dem Mann vor das Zelt zu gehen.
    Die Eisengesellschaft gab eine enorme Summe für Großmutters Beerdigung aus. Seit dem Abzug der Trupps von Zugführer Leng und des Regiments Jiang finanzierte sie ihre Aktivitäten in der Gemeinde Nordost-Gaomi mit einer eigenen Währung. Es handelte sich um auf grobes Strohpapier gedruckte Noten im Nennwert von 1000 und 10000 Yuan. Die Gestaltung war einfach (eine menschenähnliche Figur, die auf einem Tiger ritt) und der Druck mangelhaft (man verwendete hölzerne Druckstempel, die sonst für Neujahrsplakate benutzt wurden). Zu dieser Zeit waren in der Gemeinde Nordost-Gaomi insgesamt vier Währungen im Umlauf. Ihr jeweiliger Wert und der Wechselkurs hingen von der Autorität der Macht ab, die sie ausgab. Eine Währung, die auf militärischer Gewalt beruhte, war die extremste Form der Ausbeutung der Bevölkerung, und Großvater konnte Großmutters Beerdigung nur mit Hilfe dieser Form verschleierter Tyrannis finanzieren. Das Regiment Jiang und die Trupps des Zugführers Leng waren vertrieben worden, und infolgedessen war Großvaters Primitivwährung eine Zeitlang in der Gemeinde Nordost- Gaomi sehr stark. Die Katastrophe kam erst ein paar Monate nach Großmutters Beerdigung, als die Scheine mit dem Tigerreiter das Papier nicht mehr wert waren, auf das sie gedruckt waren. Die beiden Soldaten der Eisengesellschaft brachten den Kräuterarzt in das Beerdigungszelt. Sie blinzelten im Kerzenlicht.
    «Was zum Teufel ist los?» knurrte Großvater und erhob sich halb von seinem Stuhl.
    Der vordere Soldat ließ sich auf ein Knie nieder und bedeckte den kahlrasierten Teil seines Schädels mit beiden Händen. «Stellvertretender Kommandant, wir haben einen Spion erwischt!»
    Schwarzauge, der dunkelhäutige, ungeschlachte Führer der Gesellschaft, dessen linkes Auge schwarze Warzen umgaben, trat gegen das Tischbein und befahl mit bellender Stimme: «Schlagt ihm den Kopf ab ! Reißt ihm dann Herz und Leber aus dem Leib und kocht sie als Vorspeise!»
    «Nicht so eilig!» stoppte Großvater die Soldaten. Er wandte sich an Schwarzauge: «Schwarzer, sollten wir nicht erst einmal feststellen, wer er ist, bevor wir ihn umbringen?»»
    «Wer will das schon wissen?»» Schwarzauge griff nach einer tönernen Teekanne und warf sie auf den Boden. Dann stand er mit im Gürtel steckender Pistole auf und starrte den Soldaten

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