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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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können.
    Der Arzt und sein hageres Maultier stolzierten über den Markt. Die Leute, die zur Beerdigung gekommen waren, starrten sie neugierig an. Es war etwas Seltsames um die beiden, den Reiter wie sein Reittier, und das melodische Läuten der kleinen Messingglocke verbreitete um sie die Aura eines unergründlichen Geheimnisses. Die Menge schloss sich ihnen an, ohne groß darüber nachzudenken, und die Staubwolke, die sie aufrührten, senkte sich über das fettige Gesicht des Arztes und den stinkenden Rücken seines schwitzenden Maultiers. Seine Augen zwinkerten unablässig, und das borstige Nasenhaar zuckte. Er nieste laut und blechern, und das hagere Maultier ließ einen Furz nach dem anderen. Das brach den Zauber, und die Zuschauer zerstreuten sich lachend, um nach einem Lagerplatz für die Nacht zu suchen.
    Der junge Mond in den Baumwipfeln warf verschwommene Schatten über das Dorf. Von den Feldern her wehte eine kühle Brise, und das Quaken der Frösche im Schwarzwasserfluß erfüllte die Luft. Immer mehr Besucher kamen zum Begräbnis, aber im Dorf war kein Platz mehr für sie, und so schliefen sie in den Feldern. Später, als die Feierlichkeiten vorüber waren, war die weiche Erde rund um das Dorf bis hin zum Schwarzwasserfluß unter ihren Schritten hart geworden. Sie hatten die junge Hirse in den Boden getrampelt, bis nicht viel mehr von ihr übrig war als grüner Schlamm. Erst mit dem neuen Regen im nächsten Monat wurde die harte Erde wieder fruchtbar, und überlebende Sprösslinge bohrten sich hartnäckig durch eine Unkrautschicht, bis die Halme und Blätter der neuen Hirse sich wie eine Decke über bronzefarbene Spreu und rostgrüne Flecken legten.
    In der Abenddämmerung unternahm der Kräuterarzt mit seinem Maultier einen Erkundungsgang durch das Dorf. Unregelmäßig durchbrach sein lautes Niesen den Rhythmus des Glockenklangs. Ins Dorfinnere vorgedrungen, umkreiste er einmal das große Zelt, das von Großvaters Eisengesellschaft errichtet worden war. Es war das größte Gebäude, das man je in unserem Dorf gesehen hatte, und es wirkte furchteinflößend und ehrfurchtgebietend. In der Mitte des Zelts war Großmutter aufgebahrt, und durch die Ritzen zwischen den Planen flimmerte Kerzenschein. Zwei Soldaten der Eisengesellschaft, die Pistolen in den Gürteln, hielten vor dem Zelt Wache. Ihre Schädel waren kahlgeschoren. Alle Angehörigen der Gesellschaft trugen diesen Haarschnitt, der dem Betrachter Furcht und Schrecken einjagte. Die zweihundert Mann der Truppe hatten ihr Feldlager in kleineren Zelten rund um das Hauptzelt aufgeschlagen. Vor einem langen Futtertrog waren mehr als fünfzig Pferde an den Weidenbäumen angebunden. Sie schnaubten, scharrten mit den Hufen und schlugen mit den Schwänzen nach den Schwärmen von Fliegen, die ihr Geruch angezogen hatte. Pferdeknechte schütteten Maische in den Trog, und die Luft unter den Weiden war erfüllt vom Duft getrockneter Hirse.
    Der Duft erregte die Aufmerksamkeit des hageren Maultiers, das seinen Kopf mühsam dem Trog zuwandte. Mit spöttischer Miene verfolgte der Kräuterarzt den mitleiderregenden Blick seines Reittiers und murmelte vor sich hin: «Bist du hungrig? Hör auf mich. Feinde und Liebende begegnen sich zwangsläufig. Menschen sterben um des Reichtums willen. Vögel sterben für ihr Futter. Die Jungen sollen die Alten nicht verlachen, denn die Blumen blühen nicht ewig. Man muss wissen, wann es Zeit ist nachzugeben. Das ist kein Zeichen von Schwäche, wenn es zukünftigem Vorteil dient.»
    Das unzusammenhängende Gerede und das geheimnisvolle Gehabe des Arztes, der sein Maultier am Zügel führte, erregten die Aufmerksamkeit von ein paar Soldaten der Eisengesellschaft, die sich verkleidet unter das Volk gemischt hatten. Zwei von ihnen folgten dem Arzt. Vor sich hin schwätzend und mal laut, mal leise seine Glocken läutend, führte er sein Maultier zu den Pferden. Die Soldaten schnitten ihm den Weg ab. Plötzlich standen sie mit gezogener Pistole vor und hinter ihm.
    Ohne Anzeichen von Furcht zu zeigen, stieß er in der Dunkelheit ein grelles, trauriges Gelächter aus, das die Pistolen in den Händen der Soldaten erzittern ließ. Der vordere sah die dunkel  glühenden Augen des Arztes, der andere seinen Nacken, der vor Lachen steif war. Der Schatten des großen, hageren Maultiers glich einer eingestürzten Mauer. Das Wiehern zweier Pferde, die sich am Futtertrog stritten, durchbrach die Stille.
    Vierundzwanzig rote Kerzen beleuchteten

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