Das Rote Kornfeld
tat weh, als habe man ihm einen Faustschlag versetzt. Wenn er zu den Sternen aufblickte, wusste er, wie sehr er sich nach seiner Frau und seinem Sohn sehnte. Aber jetzt, wo der lang erwartete Augenblick gekommen war und er am Dorfrand stand, jetzt, da er das vertraute Aroma der Branntweinmaische im Dunkel riechen konnte, zögerte er.
Die anderthalb Ohrfeigen, die Großmutter ihm versetzt hatte, hatten einen Graben so tief wie ein Fluss zwischen ihnen geschaffen. Esel hatte sie ihn genannt und Schwein. Ein wütender Blick hatte ihn zusammen mit dem Zornausbruch getroffen, als sie vor ihm stand, die Hände in die Hüften gestützt, den Rücken gebeugt, den Hals vorgeschoben, ein helles Blutrinnsal auf dem Kinn, ein schrecklicher Anblick, der sein Herz in Verwirrung gestürzt hatte.
Noch nie war er so beschimpft worden, und noch nie hatte ihn eine Frau geschlagen. Gewiss tat ihm die Affäre mit Lian’er leid, aber die Demütigung, die Großmutter ihm zugefügt hatte, vertrieb die Reue aus seinem Herzen. An die Stelle der Zerknirschtheit war Rachgier getreten.
Selbstgerecht hatte er mit Lian’er das Haus verlassen und sich mit ihr ein paar Kilometer weiter an der Salzwassermündung niedergelassen. Er hatte ein Haus gekauft und ein neues Leben begonnen. Aber er wusste auch, dass es nicht das Leben war, von dem er träumte. Er begann Lian’ers Schwächen immer deutlicher zu sehen und sie mit Großmutters Stärken zu vergleichen.
Er war dem Tod um Haaresbreite entkommen und war an einen Ort zurückgekehrt, an dem ihn vertraute Düfte empfingen. Tiefe Trauer überkam ihn. Er wäre gern in das Haus zurückgekehrt, mit dem ihn so viele gute wie böse Erinnerungen verbanden, und hätte versucht, die Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken. Aber die Erinnerung an den Tonfall, in dem sie ihn verflucht hatte, und der Anblick, den sie ihm beim Abschied geboten hatte, erwiesen sich als unüberwindliche Schranke.
Mitten in der Nacht schleppte sich Großvater erschöpft zum Dorf an der Salzwassermündung, stand vor dem Haus, das er zwei Jahre zuvor gekauft hatte, und blickte zum Mond auf, der hoch am südwestlichen Himmel stand. Der Himmel war silbergrau, der Mond orangefarben. Es war noch nicht Vollmond, doch die schwachen Umrisse des dunklen Teils waren deutlich sichtbar. Ein Dutzend einsame Sterne umgaben die helle Scheibe. Die kalten Strahlen des Mondes und seiner Begleiter fielen auf die Häuser und die Straße. Lian’ers dunkler, kräftiger, schlanker Körper zog vor seinem inneren Auge vorüber, und als er an die goldenen Flammen dachte, die ihren Körper umgaben, und an die blauen Flammen, die aus ihren Augen schossen, ließ ihn eine quälende Sehnsucht, die er in der ganzen Haut fühlen konnte, seine geistigen und körperlichen Qualen vergessen. Er kletterte über die Ziegelmauer und sprang in den Hof.
Er versuchte, seine Leidenschaft zu zügeln, als er an das Fenster klopfte und leise rief: «Lian’er! Lian’er!»
Von drinnen erklang ein gedämpfter Schreckensruf, dann das Geräusch entsetzten Zitterns, schließlich unregelmäßiges Seufzen.
«Lian’er, erkennst du mich nicht? Ich bin’s, Yu Zhan’ao!»
«Zhan’ao, mein Geliebter! Du kannst mich zu Tode erschrecken, aber ich habe keine Angst. Und wenn du ein Gespenst bist, will ich dich trotzdem sehen ! Ich weiß, dass du ein Geist bist, aber du bist zu mir gekommen. Ich bin so glücklich! Du hast mich also doch nicht vergessen. Komm herein, komm herein!»
«Lian’er, ich bin kein Gespenst. Ich bin am Leben, ich bin ihnen entkommen.» Er trommelte gegen das Fenster. «Hast du das gehört? Könnte ein Geist so einen Krach machen?»
Lian’er begann zu weinen.
, «Weine nicht», sagte Großvater, «man wird dich hören.»
Er ging zur Tür, aber noch bevor er sie erreicht hatte, lag Lian’ers nackter Körper in seinen Armen wie ein gewaltiger Hundsfisch.
Großvater lag auf der Bettstatt und sah mit leerem Blick auf die tapezierte Decke. Zwei Monate lang verließ er das Haus nicht. Lian’er trug ihm zu, was man auf den Straßen über die Banditen von Nordost-Gaomi erzählte. Wenn die unauslöschlichen Erinnerungen an die Tragödie übermächtig wurden, füllte das Knirschen seiner Zähne den Raum. Ein Leben lang hatte er Wildgänse gejagt, und am Ende hatten ihm die Wildgänse die Augen ausgehackt. Wie viele Gelegenheiten hatte er gehabt, den alten Hund Cao Mengjiu umzubringen! Und immer wieder hatte er ihn verschont. Er dachte an meine Großmutter.
Weitere Kostenlose Bücher