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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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schlossen die Augen und nahmen Schwarzauges Gesang auf. Die Rufe «amalai, amalai» vereinten sich zu einem herzerhebenden Schlachtlied, und Großvater hatte das Gefühl, dämonische Melodien erfüllten die Halle. Sein Ärger ließ nach. Er hatte vorgehabt, Schwarzauge zu ermorden. Doch in seinen Abscheu mischten sich Ehrfurcht und Scheu.
    Als sie ihren Gesang beendet hatten, verneigten sich die Soldaten der Eisengesellschaft vor dem alten Dämon auf dem Tiger, erhoben sich und bildeten vor Schwarzauge zwei gerade Reihen. Der stand hinter einem großen, tiefen Fass voll roter Hirse, die in Brunnenwasser eingeweicht war. Großvater kannte das Gerücht, die Soldaten der Eisengesellschaft äßen rohe Hirse, und jetzt sah er es mit eigenen Augen. Jeder einzelne nahm aus Schwarzauges Händen eine Schale voll roher Hirse entgegen und schlang sie hinunter. Dann näherten sie sich dem Altar und berührten nacheinander mit der Affenpfote, dem Eselshuf und dem Hühnerschädel ihre Stirn.
    Als die Zeremonie der Eisengesellschaft abgeschlossen war, zogen sich schon rote Streifen über die Sonne. Großvater gab einen Schuss auf das überlebensgroße Gemälde ab und schoss dem alten Dämon auf dem Tiger ein Loch ins Gesicht. Beim Knall des Schusses traten die Soldaten aus dem Glied, zögerten einen Augenblick, um sich zu orientieren, stürzten dann auf den Hof und bildeten einen Kreis um Großvater.
    «Wer bist du? Was fällt dir ein, du Schurke?» donnerte ihm Schwarzauge entgegen.
    Großvater schob mit der rauchenden Pistolenmündung die Filzkappe aus dem Gesicht. «Ich bin’s, Yu Zhan’ao.»
    «Ich dachte, du  seist tot», rief Schwarzauge verblüfft aus.
    «Erst wollte ich noch zusehen, wie du draufgehst!»
    «Glaubst du, du kannst mich damit töten? Leute, bringt mir ein Messer!»
    Ein Soldat mit einem Metzgermesser in der Hand trat zu ihm. Schwarzauge hielt den Atem an und gab dem Mann ein Zeichen. Großvater sah, wie die Messerklinge auf Schwarzauges Unterleib aufprallte wie ein Stück Ebenholz. Das Messer hinterließ nichts als ein paar blasse Kratzspuren.
    Die Soldaten der Eisengesellschaft begannen unisono zu singen: «Amalai, amalai, amalai, eiserner Kopf, eiserner Arm, Altar des eisernen Geistes ... eiserner Urahn auf eisernem Tiger erlässt sein Gebot, amalai, amalai, amalai ...»
    Großvater war starr vor Staunen. Gab es Menschen, die gegen Messer und Kugeln gefeit waren? Er sann über den Gesang der Eisengesellschaft nach. Alles an ihren Körpern war von Eisen, alles außer den Augen.
    «Kannst du mit dem Auge eine Kugel aufhalten?» fragte Großvater.
    «Kannst du mit dem Bauch ein Messer aufhalten?» fragte Schwarzauge zurück.
    Großvater wusste, dass er mit dem Bauch kein Messer aufhalten konnte; er wusste auch, dass Schwarzauge keine Kugel mit dem Auge aufhalten konnte.
    Bis an die Zähne bewaffnet, strömten die Soldaten der Eisengesellschaft aus der Halle und bildeten einen Kreis um Großvater. Sie starrten ihn an wie ein Tiger seine Beute.
    Großvater wusste, dass er nur noch neun Patronen in der Pistole hatte und dass sich die Soldaten der Eisengesellschaft, sobald er Schwarzauge getötet hatte, wie wilde Hunde auf ihn stürzen und ihn in Fetzen reißen würden.
    «Schwarzauge», sagte Großvater, «weil du etwas Besonderes bist, werde ich deinen Nachttöpfen da nichts tun. Gib mir das Weib wieder, und wir sind quitt.»
    «Gehört sie dir?» fragte Schwarzauge. «Kommt sie, wenn du rufst? Ist sie deine gesetzliche Ehefrau? Eine Witwe ist wie ein herrenloser Hund, sie gehört dem, der sie aufnimmt. Wenn du noch einen Funken Verstand hast, verschwindest du schleunigst. Beschwer dich nicht über Opa Schwarzauge, wenn dir was passiert.»
    Großvater hob die Pistole. Die Soldaten hoben ihre kalt glänzenden Waffen. Er sah, wie sich ihre Lippen in Beschwörungsgesängen bewegten, und dachte: «Ein Leben für ein Leben.»
    In diesem Augenblick erklang aus dem Hintergrund Großmutters spöttisches Gelächter. Großvaters Arm fiel herab.
    Großmutter stand mit Vater im Arm in rosiges Sonnenlicht vom westlichen Himmel gebadet auf einer steinernen Stufe. Ihr Haar glänzte von Öl, ihr Gesicht war rosig, ihre Augen funkelten. Sie strahlte unwiderstehlichen Liebreiz aus, und er verabscheute sie.
    «Hure!» rief Großvater und knirschte mit den Zähnen.
    «Esel!» rief Großmutter unverschämt zurück. «Schwein! Dummkopf! Mit dem Dienstmädchen schlafen ist alles, was du kannst!»
    Großvater hob die Pistole.
    «Mach

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