Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
Salzwasserfluss, an seine Heimat. Während er am Feuer saß und die feinschuppigen Karpfen aus den Bergbächen Hokkaidos briet, litt er unter dem Gedanken an sein elendes Leben und daran, dass er achthundert Männer in den Tod geführt hatte.
    Am frühen Morgen stieg Großvater auf einen Haufen Ziegelschutt und kletterte über die hohe Mauer um das Polizeirevier der Stadt Jinan. Dann ließ er sich auf der anderen Seite in einen Haufen Altpapier und Unkraut gleiten und erschreckte ein paar verwilderte Katzen, die im Müll nach Beute suchten. Er schlich sich in ein Haus, tauschte seine schwarze Militäruniform gegen abgerissene Zivilkleidung und verlor sich in der Menge, um zuzusehen, wie seine Dorfgenossen und seine Männer auf Güterwagen verfrachtet wurden. Wächter mit dunklen, mörderischen Mienen hatten den Bahnhof umstellt. Die Lokomotive stieß schwarzen Rauch aus, Dampf strömte aus den Auspuffrohren. Großvater wanderte auf den rostigen Gleisen nach Süden.
    Nachdem er einen ganzen Tag und eine Nacht marschiert war, erreichte er in der Morgendämmerung ein ausgetrocknetes Flussbett, das nach Blut roch. Von einer eingefallenen Brücke aus blickte er hinunter auf die trockenen Felsen, die mit Blut und verspritzter Gehirnmasse bedeckt waren. Die Leichen von achthundert Banditen aus der Gemeinde Nordost-Gaomi lagen aufgeschichtet da und füllten das halbe Flussbett. Er empfand Reue, Entsetzen, Rachedurst. Doch sein Überlebensdrang war stärker denn je. Er hatte genug von einem Leben, das nur einen endlosen Kreislauf von Töten und Getötetwerden, von Fressen und Gefressenwerden zu bieten schien. Er dachte an den Rauch, der aus den Schornsteinen seines friedlichen Dorfes in die Luft aufstieg, an das Quietschen der Winde, wenn ein Eimer frisches Wasser aus dem Dorfbrunnen hochgezogen wurde, um einen jungen Esel zu tränken, an den feurigen roten Hahn, der auf einer dattelbewachsenen Mauer stand und die leuchtenden Strahlen der Morgensonne begrüßte. Er beschloss, nach Hause zu gehen.
    Er hatte sein ganzes Leben in der Gegend verbracht und war noch nie zuvor so weit gereist, und seine Heimat schien am anderen Ende der Welt zu liegen. Er erinnerte sich, dass der Zug nach Jinan die ganze Zeit in westlicher Richtung gefahren war, also musste er nur den Gleisen nach Osten folgen, um nach Gaomi zurückzukommen. Als er die Gleise abschritt, merkte er einmal, dass sie eine Kurve in eine andere Richtung machten, und kam ins Schwanken. Aber die Unsicherheit hielt nur einen Moment an, denn es wurde ihm klar, dass auch der Yangzi sich in Kurven windet; wie sollte die Eisenbahnlinie dem nicht folgen?
    Gelegentlich sah er einen Rüden, der das Bein hob, um auf die Gleise zu pissen, oder eine Hündin, die sich zum gleichen Zweck neben die Gleise kauerte. Wenn einer der schwarzen Züge über die Strecke donnerte, versteckte er sich in einem Graben oder im Korn und sah zu, wie die rotschwarzen Räder grollend vorbeirollten. Die dampfenden Pfiffe breiteten sich unter dem fallenden Laub aus und wirbelten bizarre Formen im Staub auf. Wenn der Zug vorbei war, nahmen die Gleise mühsam wieder ihre ursprüngliche Gestalt an : kohlschwarz, glänzendgrau, geprägt vom Widerspruch, nicht unterdrückt sein zu wollen und es dennoch nicht verhindern zu können.
    Die Exkremente der chinesischen und japanischen Fahrgäste spritzten über die Schwellen und rochen genau gleich: abscheulich. Zwischen Schwellen und Gleisen klebten Erdnussschalen, Melonenkerne und Papierfetzen. Großvater aß, was er sich in den Dörfern am Weg erbetteln konnte, und trank, wenn er an einen Fluss kam. Tag und Nacht wanderte er weiter Richtung Osten. Nach zwei Wochen erblickte er endlich die vertrauten zwei Blockhütten des Bahnhofs von Gaomi, wo sich die feine Gesellschaft des Bezirks versammelt hatte, um ihren ehemaligen Richter Cao Mengjiu zu verabschieden. Der war befördert und zum Polizeichef der Provinz Shandong ernannt worden. Großvater fasste sich an die Hüfte, und seine Hand griff ins Leere. Er fiel zu Boden, ohne zu wissen warum und wie, und lag lange Zeit mit dem Gesicht auf der schwarzen Erde, ehe ihm der durchdringende Blutgeschmack im Staub zu Bewusstsein kam.
    Großvater beschloss, nicht zu Großmutter und Vater zu gehen, obgleich er Großmutters schneeweißen Körper und Vaters seltsam unschuldiges Lächeln oft im kalten Reich der Träume gesehen hatte. Wenn er dann erwachte, bedeckte sich sein schmutziges Gesicht mit heißen Tränen, und sein Herz

Weitere Kostenlose Bücher