Das Rote Kornfeld
war es ja nur der alte Geng, der auf eine Wildkatze oder sonst ein wildes Tier geschossen hat, dachte sie beruhigt. Sie konnte nicht wissen, wie recht sie hatte, und als sie einen Augenblick halbwach dasaß und sich dann wieder unter die Decke gleiten ließ, konnte sie schon gar nicht wissen, dass sich im selben Moment ein japanisches Bajonett in die Rippen des alten Geng presste.
Meine kleine Tante wälzte sich näher und kuschelte sich an Zweite Großmutter. Die nahm sie in die Arme und spürte den warmen Atem des kleinen Mädchens an ihrer Brust. Acht Jahre war es her, dass Erste Großmutter sie aus dem Haus geworfen hatte, und inzwischen hatte sich Großvater verlocken lassen, in die Präfektur Jinan zu gehen, wo er beinahe ums Leben gekommen wäre. Aber er hatte es geschafft, zu fliehen und nach Hause zu kommen. Großmutter war inzwischen mit Vater zu Schwarzauge, dem Anführer der Eisengesellschaft, gezogen.
Als Großvater am Salzwasserfluss mit Schwarzauge kämpfte, hatte sein Mut Großmutter so tief beeindruckt, dass sie ihm nach Hause gefolgt war, wo sich beide mit neuer Energie der Brennerei widmeten. Großvater legte das Gewehr beiseite und beendete seine Tage als Bandit, um zumindest für ein paar Jahre das Leben eines reichen Bauern zu führen. Der eifersüchtige Kampf zwischen meiner Großmutter und meiner Zweiten Großmutter war in diesen Jahren das einzig Schwierige. Aber schließlich einigten sie sich auf eine Art von dreiseitigem Vertrag, der festlegte, dass Großvater je zehn Tage bei Großmutter und dann wieder zehn Tage bei meiner Zweiten Großmutter verbringen sollte. Zehn Tage galten als Obergrenze. Da keine der beiden Frauen es an Temperament mangeln ließ, hielt sich Großvater an die Abmachung.
Zweite Großmutter wiegte sich genüsslich in der Süße ihrer Sorgen und hielt meine kleine Tante fest an sich gepresst. Sie war im dritten Monat schwanger. Schwangere Frauen neigen zu Friedfertigkeit und Zärtlichkeit, aber die Schwangerschaft ist auch eine Zeit der Schwäche, in der sie Aufmerksamkeit und Schutz brauchen. Zweite Großmutter war da keine Ausnahme. Sie zählte die Tage an den Fingern ab. Sie hatte Sehnsucht nach Großvater. Morgen würde er kommen. Wieder hörte sie einen Schuss vor dem Dorf.
Erschreckt sprang sie aus dem Bett und zog sich an. Ihre Beine waren weich wie Gummi. Auch sie hatte das Gerücht gehört, die Japaner wollten das Dorf plündern. Die Ahnung eines unausweichlichen Verhängnisses ließ ihren angespannten Nerven keine Ruhe. Sie wäre sogar bereit gewesen, mit Großvater in die Brennerei zu ziehen, auch wenn sie sich da Großmutters ständige Beschimpfungen anhören musste. Immer noch besser als die ständige Angst, mit der sie im Dorf an der Salzwassermündung leben musste. Sie hatte in vorsichtigen Andeutungen darüber zu Großvater gesprochen, aber der hatte den Vorschlag strikt abgelehnt. Ich glaube, er war von den unvereinbaren Gegensätzen zwischen Zweiter Großmutter und Großmutter bereits viel zu eingeschüchtert. Nur allzu bald sollte er seine Entscheidung bereuen. Schon am nächsten Morgen stand er in der Wärme der spätherbstlichen Sonne gebadet vor den Spuren der wilden Tiere im Hof und sah die tragischen Folgen seines Fehlers.
Meine kleine Tante wachte auf und gähnte herzhaft. Dann seufzte sie wie eine Erwachsene. Das erschreckte Zweite Großmutter, die in den Augen meiner kleinen Tante die Tränen sah, die Gähnen und Seufzen hervorgepresst hatten. Sie war sprachlos.
«Hilf mir mich anziehen, Mama», sagte meine kleine Tante.
Zweite Großmutter hob die gefütterte rote Jacke der Kleinen auf und blickte ihre Tochter, die ausnahmsweise nicht aus dem Bett gezwungen werden musste, mit unverhohlenem Erstaunen an. Ihr Gesicht war faltig, die Augenbrauen hingen herab, und die Mundwinkel krümmten sich nach unten : das Gesicht einer kleinen alten Frau. Zweite Großmutter zog es das Herz zusammen, und die rote Jacke fühlte sich eiskalt an. Von Mitleid überwältigt, murmelte sie den Namen ihrer Tochter mit einer Stimme, die zitterte wie eine Gitarrensaite: «Xiangguan, Xiangguan, warte, bis ich deine Jacke am Feuer angewärmt habe.»
«Nicht nötig, Mama, du brauchst sie nicht zu wärmen.»
Zweite Großmutter konnte die Tränen nicht zurückhalten. Sie wagte nicht, ihrer Tochter ins Gesicht zu sehen, in ein Gesicht, das plötzlich von Alter und Unheil zu sprechen schien. Als gehe es um ihr Leben, eilte sie zum Herd und machte Feuer an, um die
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