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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Hörner und Flöten intonierten vor und hinter ihr eine melancholische Melodie, und ihr traten Tränen in die Augen. Die Sänfte setzte sich schwebend in Bewegung, ihr war, als reite sie auf den Wolken oder segle durch den Nebel.
    Kurz nachdem sie das Dorf verlassen hatten, hörten die faulen Musiker auf zu spielen, und die Sänftenträger schlugen eine geschwindere Gangart an. Der Duft der Hirse drang ihr ins Herz. Seltsame und unbekannte Vögel sangen aus voller Kehle in den Feldern. Aus den dünnen Sonnenstrahlen, die durch den Vorhang ins Dunkel der Sänfte drangen, formte ihre Phantasie ein Bild des erhofften Bräutigams. Schmerzliche Nadelstiche bohrten sich ins Herz.
    «Alter Mann im Himmel, beschütze mich!»» Das stumme Gebet ließ ihre zarten Lippen erzittern. Ein leichter Flaum lag über ihrer Oberlippe, ihre zarte Haut war feucht. Jedes sanfte Wort, das sie sprach, verschlangen die rauhen Wände der Sänfte und der Vorhang vor ihrem Gesicht. Sie riss sich den Schleier, der einen säuerlichen Geruch verströmte, vom Gesicht und legte ihn auf die Knie. Sie befolgte die örtlichen Heiratssitten, die vorschrieben, dass eine Braut oben und unten drei Schichten neuer Kleider tragen musste, egal, wie warm es war. Das Innere der Sänfte war verschlissen und schrecklich schmutzig. Wie ein Sarg hatte sie die Körper vieler junger Bräute umschlossen. Die Wände waren mit fettschwitzend schmieriger gelber Seide bespannt. Von den fünf Fliegen, die in der Sänfte gefangen waren, summten drei über ihrem Kopf, und die anderen beiden saßen auf dem Vorhang vor ihrem Gesicht und rieben sich mit schwarzen, dünnen Beinen die blanken Augen. Um der bedrückenden Atmosphäre in der Sänfte ein wenig zu entfliehen, schob Großmutter eine ihrer bambusknospengleichen Zehen unter den Vorhang und hob ihn etwas an, um wenigstens kurz etwas von der Außenwelt zu sehen.
    Sie konnte die Umrisse der langen, wohlgewachsenen Beine der Träger unter ihren weiten schwarzen Samthosen erkennen und ihre großen, fleischigen Füße in den Strohsandalen. Mit jedem Schritt wirbelten Staubwolken auf. Neugierig, wie ihre kräftigen, muskulösen Brustkörbe wohl aussehen mochten, hob Großmutter ihren Fuß weiter und beugte sich vor. Sie konnte die polierten Tragstangen aus rotem Akazienholz und die breiten Schultern der Träger sehen. Am Wegrand bildeten feste und aufrechte Hirsepflanzen eine ununterbrochene Reihe von Mauern. Dicht aneinandergedrängt betrachteten sie einander mit noch immer geschlossenen hellgrünen Augen aus Rispe und Korn. Ununterscheidbar standen sie, so weit der Blick reichte, wie ein gewaltiger grüner Fluss. Stellenweise war der Pfad so eng, dass er kaum passierbar war und die wurmzerfressenen, saftigen Blätter geräuschvoll gegen die Sänfte scheuerten.
    Die Körper der Sänftenträger verströmten einen säuerlichen Schweißgeruch. Von dem männlichen Duft bezaubert, atmete Großmutter tief ein. Meine Vorfahrin muss vor Leidenschaft fast zersprungen sein. Die Träger trugen ihre Last den Weg entlang, und ihre Füße hinterließen keilförmige Spuren in der Erde. Diese Spuren nannte man «Trampelpfade», und die Kunden belohnten das Muster auf dem Boden meist durch ein Trinkgeld. Den Trägern verlieh es ein Gefühl professionellen Könnens. Es galt als unziemlich, in ungleichmäßigem Rhythmus zu «trampeln» oder die Tragstangen mit der Hand zu halten, und die besten Träger ließen die Hände die ganze Zeit auf den Hüften ruhen und wiegten die Sänfte im Rhythmus der lieblichen und doch melancholischen Melodien der Musiker, die jeden, der sie hören konnte, daran erinnerten, wieviel Leiden die bevorstehende Freude barg.
    Als die Sänfte die Ebene erreichte, schlugen die Träger eine unregelmäßige Gangart ein, um Zeit zu gewinnen, aber auch um die Braut in der Sänfte zu plagen. Manchmal wurden Bräute so heftig auf und ab geschleudert, dass ihnen schlecht wurde und sie sich übergaben und ihre Festkleider und Pantoffeln beschmutzten. Die stöhnenden und röchelnden Geräusche, die aus der Sänfte kamen, gaben den Trägern das befriedigende Gefühl, ihren Aggressionen Ausdruck gegeben zu haben. Die Mühen, die diese starken Männer auf sich nahmen, um ihre Last ins Brautgemach zu befördern, verbitterte sie, und deshalb erschien es ihnen nur natürlich, die Bräute zu quälen.
    Einer der vier Männer, die damals Großmutters Sänfte trugen, sollte eines Tages mein Großvater werden: der spätere Kommandant Yu

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