Das Rote Kornfeld
Zhan’ao. Damals war er ein zwanzigjähriger muskulöser Sarg- und Sänftenträger auf dem Höhepunkt seiner beruflichen Laufbahn in der Gemeinde Nordost-Gaomi. Die jungen Männer der Generation meines Großvaters waren so kräftig und widerstandsfähig wie die Zuckerhirse der Region. Wir nachgeborenen Schwächlinge können ihnen das Wasser nicht reichen. Damals war es üblich, dass die Sänftenträger die Braut neckten, solange sie sie trugen, wie die Brennereiarbeiter vom Schnaps trinken, den sie herstellen. Diese Männer hätten selbst die Braut des Himmelsherrn nicht in Ruhe gelassen.
Unbarmherzig kratzten die Hirseblätter an den Wänden der Sänfte. Plötzlich wurde die tödliche Eintönigkeit der Reise von Klagegesängen unterbrochen, die von weit her aus den Feldern erklangen. Die Klage ähnelte erschreckend den Melodien der Musiker, die sie begleiteten. Großmutter lauschte der Musik und versuchte, sich die Instrumente in den Händen der Musiker vorzustellen. Sie hob mit dem Fuß den Vorhang höher, bis sie die schweißüberströmte Taille eines der Träger sehen konnte. Ihr Blick fiel auf ihre eigenen bestickten roten Pantoffeln, die sich schlank verjüngten und aufsässige Trauer ausstrahlten. Von leuchtenden Ringen widergespiegelten Sonnenscheins umgeben, sahen sie aus wie Lotosblüten oder winzige Goldfische, die sich am Boden ihres Glases niedergelassen haben. Zwei winzige Tränen, so durchsichtig und rosa wie unreife Hirsekörner, benetzten Großmutters Lider und glitten über ihr Gesicht in die Mundwinkel.
Kummer und Seelenqual überfielen sie, und vor ihren Augen verschwamm das Bild eines gelehrten und gebildeten Ehegatten mit hohem Gelehrtenhut und breiter Schärpe, wie man ihn auf der Bühne sieht, und an seine Stelle trat das ekelerregende Gesicht Shan Bianlangs, dessen leprabefallener Mund von fauligen Geschwüren bedeckt war. Ihr Herz erstarrte zu Eis. Waren diese schmalen Lotosfüße, ein Gesicht so frisch wie Aprikosen und Pfirsiche, tausenderlei Zeichen der Schönheit und zehntausend Zeichen der Eleganz allein für die Lust eines Leprakranken bestimmt? Lieber wäre sie gestorben.
Unter das Klagen und Weinen im Hirsefeld mischten sich einzelne Worte: «Ach, hellblauer Himmel - ach, tiefblauer Himmel - ach, bunter Himmel, der in Farbe strahlt - mit mächtigem Knüppel - mein großer Bruder - erschlug dich der Tod - für deine einsame Schwester - stürzte der Himmel ein.»
Ich muss euch sagen, dass die Klagegesänge der Frauen von Nordost-Gaomi zur schönsten Musik der Welt gehören. 191 I , im ersten Jahr der Republik, kamen professionelle Klageweiber aus Qufu, der Geburtsstadt des Konfuzius, hierher, um die Klagetechnik unseres Dorfes zu lernen. Das Zusammentreffen mit einer Frau, die um ihren toten Gatten klagte, erschien Großmutter wie ein unheilverkündendes Vorzeichen an ihrem Hochzeitstag, und ihre Verzweiflung wuchs weiter.
Gerade da rief ihr einer der Träger zu: «He, du da, kleine Braut in deiner Sänfte, sprich mit uns! Wir langweilen uns zu Tode.»
Schnell griff Großmutter nach ihrem roten Schleier, bedeckte züchtig das Gesicht, zog den Fuß unter dem Vorhang zurück und ließ es in der Sänfte wieder dunkel werden.
«Sing für uns, und wir tragen dich.»
Als erwachten sie aus tiefem Schlummer, ließen die Musiker ihre Instrumente erklingen. Von hinten schmetterte eine Trompete: Tadamm ... tadamm.
«Papamm ... papamm», ahmte vorne einer der Träger die Trompete nach, und alle brachen in wildes Gelächter aus.
Großmutter war schweißüberströmt. Als man sie zu Hause in die Sänfte gehoben hatte, hatte Urgroßmutter sie ermahnt, sich nicht auf ein Gespräch mit den Sänftenträgern einzulassen. Sänftenträger und Musiker gehören zur Unterschicht, sind ungehobelte Kerle, und man kann nur das Schlimmste von ihnen erwarten.
Die Träger begannen, die Sänfte so wild zu schaukeln, dass sich meine arme Großmutter am Sitz festklammern musste.
«Keine Antwort? Na gut, schaukelt! Sie lässt kein Lied aus sich herausschaukeln? Dann schaukeln wir, bis sie sich nass macht.»
Die Sänfte glich einem kleinen Boot auf stürmischer See, und Großmutter hielt sich verzweifelt an dem hölzernen Sitz fest. Die zwei Eier, die sie zum Frühstück gegessen hatte, lagen ihr schwer im Magen. Die Fliegen summten um ihre Ohren, und es schnürte ihr den Hals zu. Der Geschmack der Eier kam ihr hoch. Sie biss sich auf die Lippen. «Übergib dich nicht! Du darfst dich auf keinen Fall
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