Das Rote Kornfeld
imprägniert waren. Wenn sie durch das nasse Gras lief, gab es ein schlappendes Geräusch. Ihre langen geölten Zöpfe glänzten, und um den Hals trug sie eine schwere Silberkette. Urgroßvater war Silberschmied. Meine Urgroßmutter, eine Grundbesitzerstochter, die bessere Zeiten gesehen hatte, wusste, wie wichtig gebundene Füße für ein Mädchen sind, und hatte, als ihre Tochter sechs war, damit begonnen, Großmutters Füße abzubinden und die Bandagen jeden Tag enger zu wickeln.
Die meterlangen Stoffbinden wurden so um den Fuß gewunden, dass nur der große Zeh frei blieb, und so hart angezogen, dass die Knochen splitterten und die Zehennägel in die Fußsohle einwuchsen. Der Schmerz war entsetzlich. Auch meine Mutter hatte gebundene Füße, und ihr Anblick machte mich so traurig, dass ich glaubte aufschreien zu müssen: «Nieder mit dem Feudalismus! Ein Hoch den befreiten Füßen!» Das Ergebnis der Leiden, die meine Großmutter ertragen musste, waren zwei Goldlotosknospen von drei Zoll Größe, und mit sechzehn Jahren war sie zu einer gut entwickelten Schönheit herangereift. Wenn sie beim Gehen die Arme frei schwingen ließ, bog sich ihr Körper wie eine Weide im Wind.
Shan Tingxiu spazierte mit einem Düngerkörbchen in der Hand durch das Dorf meines Urgroßvaters, als er Großmutter unter den anderen Blüten des Dorfs erblickte. Drei Monate später trug eine Brautsänfte sie von dannen.
Großmutter wurde es in der ungelüfteten Sänfte schwindlig. Ein roter Vorhang, der nach Schimmel roch, versperrte ihr den Blick nach draußen. Sie griff danach und hob ihn ein klein wenig an. Urgroßvater hatte ihr verboten, ihren roten Schleier abzunehmen. Ein schweres Armband aus gedrehtem Silber glitt über ihr Handgelenk, und als sie die gewundene Silberschlange ansah, verwirrten sich ihre Gedanken. Ein warmer Wind wehte durch die smaragdgrünen Hirsehalme neben dem schmalen Lehmweg. In den Feldern gurrten die Tauben. Zarter Puder von Blütenblättern schwebte über den silbergrauen jungen Hirserispen, die im Wind wogten. Der Vorhang, der auf der Innenseite mit einem Drachen und einem Phönix bestickt war, war nach vielen Jahren ausgeblichen und hatte einen großen Fleck in der Mitte.
Der Sommer wollte dem Herbst weichen, und draußen rings um die Sänfte schien die Sonne hell. Die hüpfenden Schritte der Träger ließen die Sänfte langsam hin und her schaukeln. Die Lederbeschläge der Tragstangen ächzten und quietschten, der Vorhang schwang leicht im Wind und ließ von Zeit zu Zeit einen Sonnenstrahl oder eine frische Brise ins Innere dringen. Großmutter schwitzte stark, und ihr Herz schlug heftig, während sie den rhythmischen Schritten und dem schweren Atem der Träger lauschte. Einmal fühlte sich ihr Schädel von innen kalt an, als sei er voll von glänzenden Kieselsteinen, dann wieder heiß, als habe man ihn mit geschrotetem Pfeffer vollgestopft.
Nachdem Shan Tingxiu Großmutter entdeckt hatte, riss der Strom der Besucher nicht ab, die Urgroßvater und Urgroßmutter gratulieren wollten. Großmutter träumte davon, beim Klang klimpernden Goldes aufs Pferd zu steigen und beim Klang klimpernden Silbers abzusteigen, aber was sie wirklich wollte, war ein anständiger, gebildeter, hübscher Mann, ein Mann, der sie gut behandeln würde. Als junges Mädchen hatte sie ihre Aussteuer und mehrere liebliche Bilder für den Mann gestickt, der einmal mein Großvater werden sollte. Sie freute sich auf die Hochzeit, aber dann deuteten ihre Freundinnen an, der junge Shan habe Lepra, und ihre Träume schwanden dahin. Als sie ihren Eltern von ihren Sorgen erzählte, drehte und wand sich Urgroßvater, und Urgroßmutter beschimpfte ihre Freundinnen und sprach von sauren Trauben.
Später erzählte Großvater, wie gebildet und wohlerzogen der junge Shan sei, dass er immer im Haus geblieben sei und deshalb den blassen Teint eines jugendlichen Gelehrten habe. Großmutter war verwirrt; sie wusste nicht, was stimmte und was nicht. Ihre eigenen Eltern würden sie doch nicht belügen. Vielleicht hatten sich ihre Freundinnen das alles ausgedacht. Sie begann, sich wieder auf ihren Hochzeitstag zu freuen. Großmutter strahlte in ihrer jugendlichen Fülle starke Ängste und einen Hauch von Einsamkeit aus. Sie sehnte sich danach, die Ängste und die Einsamkeit in den Armen eines starken, edlen jungen Mannes zu verlieren. Endlich nahte zu ihrer Erleichterung der Hochzeitstag. Man setzte sie in die von vier Trägern gehaltene Sänfte. Die
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