Das Rote Kornfeld
zurück.
Vater sah die Pistole in Kommandant Yus Hand langsam steigen, bis sie auf Adjutant Rens Rücken gerichtet war. Alle Teilnehmer der Trauerfeier standen wie gebannt, keiner gab ein Geräusch von sich. Adjutant Ren, der nichts von dem bemerkte, was hinter seinem Rücken vor sich ging, marschierte stolz und zuversichtlich mit erhobenem Haupt ins Dorf zurück. Die strahlend gelbe Scheibe am Himmel leuchtete ihm ins Gesicht. Vater sah, wie die Pistolenhand einmal zuckte, aber die Explosion war so fern und leise, dass er nicht einmal sicher war, sie gehört zu haben. Er sah die flache Flugbahn der Kugel, die durch Adjutant Rens glänzendes schwarzes Haar flog und weiter ihre Bahn zog. Ohne auch nur den Kopf zu wenden oder stehenzubleiben, marschierte Adjutant Ren weiter zum Dorf.
Vater hörte, wie Adjutant Ren ein Lied pfiff. Er kannte die Melodie: «Die Hirse ist rot, die Hirse ist rot.» Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen. Adjutant Ren entfernte sich immer weiter, und doch wurden seine Umrisse immer größer. Kommandant Yu feuerte noch einen Schuss ab. Diesmal war er so laut, dass es schien, als bebe die Erde und der Himmel erzittere. Die Kugel traf eine Hirsepflanze und riss ihr die Rispen vom Stängel wie einen Kopf vom Körper. Während sie zu Boden sank, traf sie eine zweite Kugel. Undeutlich nahm Vater wahr, wie Adjutant Ren sich bückte und die goldgelbe Blüte einer Bitterkrautstaude am Wegrand pflückte. Er hielt sie an die Nase und genoss ihren Duft.
Vater erzählte mir, Adjutant Ren sei eine außergewöhnliche Figur gewesen: ein wahrer Held. Leider ist es das Schicksal der Helden, jung zu sterben. Drei Monate nachdem er den Begräbnisort so stolz verlassen hatte, ging sein Browning los, als er ihn reinigte, und tötete ihn. Die Kugel drang durch das rechte Auge ein und trat durch das rechte Ohr aus. Die eine Gesichtshälfte war von metallisch blauem Staub bedeckt. Nur drei oder vier Blutstropfen fielen aus dem rechten Ohr, und bis die Leute, die den Schuss gehört hatten, an die Unglücksstätte geeilt waren, lag Adjutant Ren tot auf dem Boden.
Kommandant Yu hob wortlos den Browning auf.
7
Großmutter, die zwei Körbe mit Handkuchen an einer Tragstange über der Schulter trug, und Wang Wenyis Frau mit zwei Eimern voll Mungobohnensuppe eilten auf die Brücke am Schwarzwasserfluß zu. Zunächst wollten sie geradeaus nach Südosten durch das Hirsefeld gehen, aber der Weg wurde ihnen zu beschwerlich. «Nehmen wir die Straße, Schwägerin», riet Großmutter, «der Umweg ist der schnellste Weg.»
Großmutter und Wang Wenyis Frau glichen zwei Vögeln, die hoch am Himmel dahinschießen. Großmutter trug eine scharlachrote Jacke und hatte ihr Haar geölt, bis es glänzte wie Ebenholz. Wangs Frau, eine lebhafte kleine Frau, war gut zu Fuß. Damals, als Kommandant Yu seine Truppen zusammenstellte, hatte sie ihren Mann zu uns gebracht und Großmutter gebeten, bei Kommandant Yu ein gutes Wort für ihn einzulegen. Großmutter hatte es ihr versprochen, und Kommandant Yu war ihrer Bitte gefolgt.
«Hast du Angst vor dem Tod?» fragte Kommandant Yu.
«Ja», antwortete Wang Wenyi.
«Wenn er ja sagt, meint er nein», erklärte Wangs Frau. «Japanische Flugzeuge haben unsere drei Söhne massakriert.»
Wang Wenyi war nicht zum Soldaten bestimmt. Er reagierte zu langsam, und er verwechselte rechts und links. Bei Marschübungen auf dem Exerzierplatz bezog er mehr Prügel von Adjutant Ren, als man sich vorstellen kann. Da kam seine Frau auf eine Idee : Er sollte einen Hirsehalm in der rechten Hand tragen und sich beim Kommando «Rechtsum» zur Hirse drehen. Da er keine Waffe besaß, schenkte ihm Großmutter unser Jagdgewehr.
Als die beiden das Ufer des Schwarzwasserflusses erreichten, machten sie sich, ohne auf die Chrysanthemen am Ufer oder das dichte blutrote Hirsegestrüpp jenseits des Flusses zu achten, auf den Weg nach Süden. Wang Wenyis Frau hatte ein entbehrungsreiches Leben geführt, Großmutter eines voll von Privilegien. Großmutter war schweißüberströmt, Wang Wenyis Frau war knochentrocken.
Inzwischen war Vater zum Brückenkopf zurückgekehrt und berichtete, dass die Handkuchen unterwegs waren. Kommandant Yu strich ihm lobend über den Kopf. Die meisten Soldaten lagen im Hirsefeld und sonnten sich. Nervös und voller Ungeduld schlenderte Vater zum Feld westlich der Straße, um nachzusehen, was der Stumme und seine Männer taten. Der Stumme wetzte immer noch sein Messer. Vater stand,
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