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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Dorfes, auf den gewundenen Fluss, auf das Netz von Straßen und Wegen. Ihr Blick streift den chaotischen Flug der Gewehrkugeln am Himmel und die wuchernden Pflanzen und die Tiere, die am Scheideweg zwischen Leben und Tod zögern. Zum letzten Mal riecht sie den Duft von Hirsebrand und den stechenden Geruch von heißem Blut. Plötzlich spielt sich vor ihrem Auge eine Szene ab, die sie noch nie erlebt hat : Tausende ihrer Dorfgenossen liegen im Feuerhagel gefangen, in Lumpen gekleidet, im Hirsefeld, und ihre Arme und Beine bewegen sich im Rhythmus des Totentanzes.
    Der letzte Faden, der sie mit der Menschheit verbindet, löst sich. All ihre Trauer, ihr Leiden, ihre Ängste und ihre Niedergeschlagenheit senken sich über das Feld unter ihr, fallen wie Hagel auf die Hirsepflanzen und stürzen weiter in die schwarze Erde, wo sie Wurzeln schlagen, die bittere Früchte für kommende Generationen tragen werden.
    Großmutter hat ihre Befreiung vollendet. Sie fliegt mit den Tauben davon. Ihre Gedanken schrumpfen, sind nicht einmal mehr so groß wie eine Faust, sind nur noch erfüllt von Freude, Frieden, Wärme, Behaglichkeit und Harmonie. Sie ist zufrieden. Voll echter Hingabe sagt sie: «Himmel! Mein Himmel ...»
     
     
9
     
    Während die Maschinengewehre auf den Lastwagen die Gegend weiterhin unter Beschuss nahmen, begannen die Räder langsam auf die Brücke zuzurollen. Die fliegenden Kugeln hielten Großvater und seine Leute in ihren Stellungen fest. Die paar Männer, die ihre Köpfe über die Böschung streckten, bezahlten ihren Wagemut mit dem Leben. Großvaters Brust schwoll vor Wut. Jetzt hatten alle Lastwagen die Brücke erreicht, so dass ihr Schussfeld größer wurde. «Männer», schrie er, «zum Angriff!» Er gab schnell hintereinander drei Schüsse ab und traf zwei japanische Soldaten. Ihre Leichen lagen über dem Führerhaus, dunkles Blut floss über die Kühlerhaube. Das Echo seiner Schüsse schwebte noch in der Luft, als unregelmäßige Feuerstöße auf beiden Seiten der Straße ausbrachen. Sieben oder acht Japaner wurden niedergemäht. Zwei fielen vom Lastwagen. Ihre Arme und Beine zuckten panisch, als die Körper sich auf beiden Seiten der Brücke ins schwarze Wasser bohrten. Die Kanone der Brüder Fang donnerte röhrend: Eine gewaltige Flammenzunge sprang aus dem Lauf und blitzte furchterregend über das Flussbett. Ein Wirbelsturm von Stahlkugeln und Geschossen traf den zweiten Lastwagen mit seiner Ladung weißer Säcke. Rauchwolken stiegen zum Himmel auf. Ströme von weißem Reis quollen aus unzähligen Löchern.
    Vater kroch auf dem Bauch aus dem Hirsefeld zurück zur Böschung. Er musste unbedingt mit Großvater sprechen, der gerade dabei war, seine Pistole neu zu laden. Der erste japanische Lastwagen brachte den Motor auf Touren, um über die Brücke zu kommen, aber die Vorderräder blieben in der Barriere aus Rechen stecken. Mit lautem Zischen entwich aus den durchstochenen Reifen die Luft. Der Lastwagen, der die Harken hinter sich herschleifte, gab ein groteskes Rumpeln von sich. Vater kam er vor wie eine gewaltige Schlange, die einen Igel verschluckt hat und jetzt schmerzhaft zuckt. Die Japaner auf dem ersten Lastwagen sprangen ab. «Alter Liu», befahl Großvater, «blase zum Angriff!»» Der Klang des Signalhorns war von erschreckender Kühle. «Attacke!» befahl Großvater und stellte sich an die Spitze des Angriffs. Er feuerte ohne zu zielen und streckte einen japanischen Soldaten nach dem anderen zu Boden.
    Die Trupps westlich der Straße schlossen sich der Front an und verwickelten die Japaner in einen Nahkampf. Die Japaner auf dem letzten Wagen feuerten in die Luft. Auf dem ersten Wagen waren noch zwei Japaner. Großvater sah zu, wie der Stumme auf die Ladefläche sprang. Die Japaner stießen mit dem Bajonett zu. Er wehrte den einen mit dem Rücken seines Messers ab, dann holte er weit aus und trennte dem Soldaten sauber seinen behelmten Kopf ab, der laut brüllend durch die Luft segelte, bevor er mit schwerem Aufschlag auf dem Boden landete. Der Aufprall presste die Reste eines Schreis aus dem Mund. Vater war erstaunt, wie scharf das Messer war. Er starrte auf den überraschten Ausdruck in dem japanischen Gesicht, der dort festgefroren war, als der Kopf seinen Körper verließ. Die Backen zitterten noch, die Nüstern zuckten noch, als wolle der Kopf niesen.
    Der Stumme schlug den nächsten japanischen Kopf ab, und als der tote Körper des Mannes gegen das Geländer des Lastwagens fiel, zog

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