Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
Westseite der Straße antworteten seinem Befehl. Die Pistole in der linken Hand, sprang er auf die Beine. Mehrere Kugeln pfiffen an seinem Gesicht vorbei. Er ließ sich zu Boden fallen und rollte zurück ins Hirsefeld. Auf der Westseite erklang ein Schmerzensschrei, und Vater wusste, dass noch einer der Unsrigen getroffen war.
    Noch einmal ließ Hornist Liu das Signalhorn zum Himmel aufklingen. Der scharlachrote Klang traf auf die Rispen der Hirse und ließ sie erzittern.
    Großvater griff nach Vaters Hand. «Komm mit, mein Sohn. Wir schlagen uns zu den andern am westlichen Straßenrand durch.»»
    Rauch stieg von den Lastwagen auf der Brücke auf. Zwischen den knisternden Flammen fielen die Reiskörner wie Sprühregen auf die Wasseroberfläche. Großvater hielt Vater fest an der Hand, und gemeinsam rannten sie über die Straße. Ein Kugelhagel folgte ihrem Weg. Zwei Soldaten mit rußverschmierten Gesichtern und aufgesprungener Haut beobachteten ihre Ankunft. «Kommandant»», stieß der eine aus blutigen Lippen vor, «wir sind erledigt.»»
    Verzweifelt saß Großvater im Hirsefeld. Es dauerte lange, bis er den Kopf wieder hob. Die Japaner auf der anderen Seite der Brücke stellten das Feuer ein. Auf das Geräusch brennender Lastwagen auf der Brücke antworteten von der Ostseite der Straße die Hornstöße des alten Liu.
    Vaters Furcht verflog. Auf seinem Weg nach Westen hob er vorsichtig den Kopf über das tote Unkraut und hielt Ausschau. Das Dach des zweiten Lastwagens war noch nicht in Brand geraten. Ein japanischer Soldat sprang herab, öffnete die Fahrertür und zog einen hageren alten Japaner heraus. Er trug weiße Handschuhe, schwarze Reitstiefel und einen Degen. Eng an den Lastwagen geschmiegt, pirschten sie sich zum Brückengeländer und begannen, an einem der Pfeiler herabzuklettern. Vater hob die Pistole, aber seine Hand zitterte wie Laub im Wind, und im Visier hüpfte der Hintern des alten Japaners auf und ab. Er biss die Zähne zusammen und feuerte mit geschlossenen Augen. Der Browning knallte laut, aber die Kugel verfehlte ihr Ziel und ging ins Wasser, wo sie einen weißen Aal traf, der mit dem Bauch nach oben im Fluss treibend verendete. Der alte Japaner sprang ins Wasser.
    «Vater»», rief mein Vater, «ein Offizier!»»
    Eine zweite Explosion erschütterte seinen Kopf, und der Schädel des alten Japaners zersplitterte. Eine blutige Pfütze breitete sich auf dem Wasser aus. Der andere Japaner versuchte verzweifelt, hinter den Brückenpfeiler zu schwimmen.
    Großvater zog Vater zu Boden, als die nächste japanische Salve die Gegend mit Feuer überzog und ziellos in das Feld donnerte. «Braver Junge»», sagte Großvater, «du bist wirklich mein Sohn.»»
    Was Vater und Großvater nicht wussten, war, dass der alte Japaner, den sie umgebracht hatten, der berühmte General Nakaoka Amataka war.
    Das Horn des alten Liu wollte nicht schweigen. Im roten und grünen Flammenschein der brennenden Lastwagen schien die Sonne zu schrumpfen.
    «Vater», sagte Vater, «Mutter ruft nach dir. Sie will dich sehen.»
    «Lebt sie noch?»»
    «Ja.»
    Vater nahm Großvater bei der Hand und führte ihn tiefer in die Hirsefelder.
    Großmutter lag auf dem Boden. Der Schatten der Getreidehalme fiel auf ihr Gesicht und legte sich über das heroische Lächeln, das sie für Großvater angelegt hatte. Ihr Gesicht war schöner als je zuvor. Die Augen standen offen.
    Zum ersten Mal in seinem Leben sah Vater zwei dünne Tränenspuren über Großvaters hartes Gesicht laufen.
    Großvater fiel neben Großmutters Leiche auf die Knie und schloss ihr mit der nicht verwundeten Hand die Augen.
    Als mein Großvater 1976 starb, schloss mein Vater seine blicklosen Augen mit der linken Hand, der zwei Finger fehlten. Als mein Großvater 1958 aus den einsamen Bergen der japanischen Insel Hokkaido zurückkehrte, konnte er kaum mehr sprechen. Er spuckte jedes Wort aus, als sei es ein schwerer Stein. Das Dorf gab ein großes Willkommensfest zu seinen Ehren. Selbst der Bezirksvorsteher nahm teil. Ich war damals erst zwei Jahre alt, aber ich kann mich an die acht altmodischen viereckigen Tische unter dem Ginkgobaum am Dorfeingang erinnern, die mit Flaschen und Dutzenden von weißen Trinkschalen gedeckt waren. Der Bezirksvorsteher nahm eine Flasche und füllte eine Schale, die er Großvater mit beiden Händen überreichte. «Willkommen, alter Held»», sagte er. «Du hast unseren Bezirk berühmt gemacht.»» Großvater erhob sich mühsam. Seine

Weitere Kostenlose Bücher