Das Rote Kornfeld
Mutter will nicht sterben. Gott, du hast mir einen Liebhaber gegeben, du hast mir einen Sohn gegeben, du hast mir Reichtum gegeben, du hast mir dreißig Jahre Leben so kräftig und gesund wie rote Hirse gegeben. Gott, der du mir das alles gegeben hast, nimm es jetzt nicht zurück. Vergib mir, lass mich frei. Habe ich gesündigt, Gott? Hätte ich mein Kissen mit dem Leprakranken teilen und ein stinkendes, hässliches Ungeheuer gebären sollen, das die schöne Welt verunreinigt hätte? Was ist Keuschheit? Was ist der richtige Weg? Was ist gut? Was ist böse? Du hast es mir nie gesagt. Ich habe selbst entscheiden müssen. Ich habe das Glück geliebt, ich habe die Stärke geliebt, ich habe die Schönheit geliebt. Es war mein Körper, und ich habe damit getan, was ich richtig fand. Ich habe keine Angst vor Sünde oder Strafe. Ich habe keine Angst vor deinen achtzehn Höllen. Ich habe getan, was ich tun musste. Ich fürchte nichts, aber ich will nicht sterben, ich will leben. Gott, ich habe noch nicht genug von dieser Welt...
Großmutters Aufrichtigkeit rührt die Himmel. Frische Tropfen klarer Flüssigkeit quellen aus ihren trockenen Augen, die ein fremdartiges himmlisches Licht ausstrahlen. Noch einmal sieht sie Vaters goldenes Gesicht und zwei Augen, die denen Großvaters so sehr gleichen. Ihre Lippen zittern. Sie ruft Douguans Namen. «Mutter», schreit Vater aufgeregt, «du wirst gesund werden. Du wirst nicht sterben. Ich habe das Blut gestillt. Es ist gestillt. Ich hole Vater. Ich sage ihm, dass er kommen soll. Mama, du darfst nicht sterben, du musst auf Vater warten!»
Vater läuft fort. Der Klang seiner Schritte wird zu einer zarten Melodie, dann zu der Himmelsmusik, die Großmutter vorhin gehört hat. Sie lauscht der Musik des Universums, die eine Hirsepflanze nach der anderen ihr vorspielt. Sie blickt auf die rote Hirse, und vor ihrem getrübten Blick werden die Halme kunstvoll und überwältigend schön, grotesk und bizarr. Sie fangen an zu stöhnen, zu klagen, zu schreien, sich um sie zu winden. In einem Augenblick sind sie dämonisch, im nächsten vertraut. Sie winden sich vor ihren Augen wie Schlangen. Plötzlich strecken sie sich gen Himmel wie Lanzen, und ihr Glanz ist unbeschreiblich. Sie sind rot und grün, sie sind schwarz und weiß, sie sind blau und grün, sie lachen von Herzen, sie weinen kläglich. Ihre Tränen sind Regentropfen, die auf die einsame Sandbank ihres Herzens fallen.
Der blaue Himmel leuchtet zwischen den Hirsepflanzen. Der Himmel ist so hoch und doch so tief. Großmutter fühlt sich, als seien Himmel und Erde, Mensch und Hirse unter einem gigantischen Zelt miteinander verschlungen. Weiße Wolken fegen über ihr Gesicht und über die Rispen, laut kratzen die rauhen Wolkenränder über das Korn. Dem ruhigen Flug der Wolken am Himmel folgen Schatten. Ein Schwarm weißer Tauben lässt sich vom Himmel fallen und sitzt auf den Spitzen der Hirse. Ihr Gurren weckt Großmutter, die ihre Formen nur undeutlich erkennen kann. Die roten Augen der Tauben, so groß wie Hirsekörner, sind starr auf sie gerichtet. Sie lächelt ihnen freundlich zu, und sie erwidern ihr Lächeln. Sie scharen sich um die glühende Liebe zum Leben, wie sie ein Mensch verspürt, der es bald lassen wird. «Ihr Lieben»», ruft sie, «ich will euch nicht verlassen.»» Als Antwort auf ihren stummen Schrei picken die Tauben emsig Hirsekörner vom Boden. Eins nach dem anderen verschlucken sie die Hirsekörner, die sie aufgepickt haben, und ihr Kropf schwillt an. Die Federn stellen sich wie ein Fächer in den Wind und den Regen.
Früher einmal nistete ein großer Taubenschwarm im Giebel unseres Hauses. Im Herbst stellte Großmutter ein Wasserbecken in den Hof, und wenn die Tauben aus den Feldern heimkamen, setzten sie sich säuberlich auf den Beckenrand und spuckten die Hirsekörner aus dem Kropf in das Wasser, in dem ihr Spiegelbild tanzte. Dann stolzierten sie über den Hof. Tauben, die friedlich auf den Hirsepflanzen sitzen, Tauben, die von den Stürmen des Krieges aus dem Nest vertrieben worden sind, blicken auf Großmutter, als trauerten sie über ihren bevorstehenden Tod.
Großmutters Augen werden wieder trüb, und die Tauben erheben sich. Die vertraute Melodie ihres Flügelschlags erfüllt den weiten blauen Himmel. Sie schwebt ihnen entgegen, breitet ihre frisch gewachsenen Flügel aus und kreist schwerelos in der Luft über der schwarzen Erde und den Hirsehalmen. Sehnsüchtig blickt sie herab auf die Ruinen ihres
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