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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Vorbeiziehen.
    «Vater», rief Großmutter, «ich will nicht mehr dahin zurück. Lieber bringe ich mich um.»
    «Tochter», antwortete Urgroßvater, «du weißt ja gar nicht, was du für ein Glück hast. Dein Schwiegervater hat versprochen, dass er mir ein großes schwarzes Maultier schenkt. Ich werde diesen elenden kleinen Esel verkaufen ...»
    Der kleine Esel senkte den viereckigen Kopf, um ein wenig schlammbedecktes Gras vom Straßenrand zu rupfen.
    «Vater», sagte Großmutter, «er hat Lepra.»
    «Dein Schwiegervater wird mir ein Maultier schenken.»
    Mein volltrunkener Urgroßvater erbrach Schnaps und Essen in das Unkraut am Straßenrand. Großmutter wurde beim Anblick des Erbrochenen schlecht, und sie empfand nichts als Abscheu.
    Der Esel kam zum Krötenloch, von wo ihnen ein überwältigender Gestank entgegenschlug. Der Esel ließ die Ohren hängen. Großmutter entdeckte die Leiche des Straßenräubers. Sein Bauch war aufgetrieben. Smaragdfarbene Schmeißfliegen bedeckten das Fleisch. Der Esel mit Großmutter auf dem Rücken machte einen weiten Bogen um die Leiche. Zornig stieg eine grüne Wolke von Fliegen in die Luft. Urgroßvater folgte dem Esel. Anscheinend war sein Körper breiter als der Weg. Einmal stolperte er in die Hirse links der Straße, dann zertrampelte er das Unkraut am rechten Rand. Als er die Leiche erblickte, stieß er ein paar erschrockene Rufe aus und murmelte dann mit zitternden Lippen: «Armer Teufel ...du armer Teufel ... schläfst du da?» Großmutter hat das kürbisförmige Gesicht des Straßenräubers nie vergessen. In dem Augenblick, in dem die Fliegen in die Luft stiegen, fiel ihr der bemerkenswerte Unterschied zwischen dem eleganten, graziösen Ausdruck auf, den sein totes Gesicht trug, und dem elenden, feigen Eindruck, den er zu Lebzeiten gemacht hatte.
    Die Entfernung zwischen ihnen vergrößerte sich Meile um Meile. Der Himmel war klar und hoch. Die Sonnenstrahlen fielen schräg auf die Reisenden. Der Esel war bald schneller als Urgroßvater. Er kannte den Weg nach Hause und trug Großmutter in sorglosem Trab. Vor ihnen machte die Straße eine Kurve, und als das Tier in die Biegung schlenderte, ließ sich Großmutter rückwärts aus der Sicherheit des Eselsrückens fallen. Ein starker Arm fing sie auf und trug sie in das Hirsefeld.
    Großmutter wehrte sich halbherzig. Eigentlich hatte sie keine Lust, sich zu wehren. Die letzten drei Tage waren ein Alptraum gewesen, und jemand anders hatte sich in einem Augenblick in einen großen Führer verwandelt. In drei Tagen hatte sie die Mysterien des Seins enträtselt. Sie legte sogar den Arm um die Schultern des Mannes und machte es ihm leichter, sie zu tragen. Hirseblätter rauschten. Urgroßvaters rauhe Stimme verwehte im Wind: «Tochter, wo bist du?»
    Auf das langgezogene, melancholische Hornsignal an der Steinbrücke folgt unmittelbar der Trommelrhythmus des Maschinengewehrfeuers. Großmutters Blut fließt im selben Tempo wie ihr Atem. «Mutter», fleht Vater sie an, «lass dein Blut nicht auslaufen. Wenn es alle ist, wirst du sterben.» Er gräbt eine Handvoll schwarzer Erde unter einer Hirsepflanze aus und streicht sie über die Wunde. Schnell quillt Blut durch die Erde. Er gräbt eine zweite Handvoll aus. Großmutter lächelt dankbar. Ihre Augen sind auf den unendlich tiefen azurblauen Himmel und auf die warme, verzeihende, mütterlich nährende Hirse gerichtet, die sie umgibt. Vor ihrem Auge erscheint die Erinnerung an einen glänzenden grünen Pfad, den winzige weiße Blumen säumen:
    Fröhlich und sorglos ritt Großmutter auf ihrem kleinen Esel den Pfad entlang, und tief aus den Hirsefeldern erklang die Stimme des kräftigen jungen Mannes, der ihr ein Ständchen brachte. Sie schwebte auf die Musik zu, ihre Füße berührten kaum die Spitzen der Rispen, als reite sie auf einer grünen Wolke.
    Der Mann legte Großmutter auf den Boden. Schlaff und weich wie ein Stück Teig lag sie da, und ihre schmalen Augen zogen sich zusammen wie die eines Lammes. Der Mann riss die schwarze Maske ab und zeigte ihr sein Gesicht. Er ist es! Ein stummes Dankgebet stieg zum Himmel auf. Das überwältigende Gefühl reiner Freude ergriff sie, und heiße Tränen traten ihr in die Augen.
    Yu Zhan’ao zog den Regenmantel aus und trampelte eine glatte Fläche ins Hirsefeld. Dann breitete er den Mantel über der roten Hirse aus. Er hob Großmutter auf und legte sie auf den Mantel. Ihre Seele zitterte, als sie seinen nackten Oberkörper sah. Es war, als

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